Mein liebes Kind

Mein liebes Kind

Ein paar Gedanken zu den Besonderheiten hebräischer Inschriften auf Gräbern von Kindern

…und Jugendlicher bzw. jung Verstorbener, müsste ich anmerken, denn manche Formulierungen finden wir nicht nur in Inschriften auf Gräbern von Kindern.

 

Eine Art Einleitung

 

Die stundenlange Arbeit auf jüdischen Friedhöfen ist oft eine sehr einsame Arbeit. Naturgemäß ist es sehr still, das Wetter passt irgendwie nie, entweder man schwitzt oder friert und die Geschichten, die ich – z.B. mit Kreide – sozusagen der Anonymität entreißen kann, nehmen mich oft mit. Denn es gibt immer wieder Inschriften, die besonders traurige Schicksale beschreiben, manchmal klar und deutlich, oft fast metaphorisch und jedenfalls verpackt in Zitate aus der hebräischen Bibel oder der rabbinischen Literatur. Dabei bewegen mich die Grabsteine bzw. die Grabinschriften von Kindern am meisten.

Gar nicht so selten kommt es vor, dass ich dann mit den Gedanken abgleite. Im Kopf entstehen Geschichten, was sich zugetragen haben könnte. Insbesondere dann, wenn die hebräischen Inschriften vieles offen lassen oder wenn sie kurz und knapp sind und wir über keine detaillierteren biografischen Informationen verfügen.

Wir erinnern uns an die beiden Schwestern aus Kobersdorf, die mit 7 und mit 10 Jahren im Abstand von 6 Jahren 1841 und 1847 gestorben sind, die Ewigkeitsschlange umschlingt das Blümchen, das die Unschuld der Kinder symbolisiert. Ihre sehr ähnlichen Inschriften klagen laut, beide Mal ist die Schuld (der Eltern?, der Mutter?) ein Thema. Wir wissen nicht, was passiert ist, warum diese Selbstvorwürfe in der Inschrift zu finden sind.

Jüdischer Friedhof Wiener Neustadt
Jüdischer Friedhof Wiener Neustadt

Diesmal sind es wieder zwei Schwestern. Als sie der Tod ereilt hatte, waren sie sehr wahrscheinlich noch jünger als die Kobersdorfer Mädchen. Es sind Rachel und Lea aus Lanzenkirchen, einem kleinen Ort in der Nähe von Wiener Neustadt, wo beide am jüdischen Friedhof begraben sind. Sie starben 1898 knapp hintereinander. Rachel am 8. Juni, ihre Schwester Lea am 26. Juni. Keine verschriftlichte Klage in der kurzen Inschrift, winzig kleine, einfache Kindergrabsteine. Und doch ist das Klagen, die Trauer der Eltern gegenwärtig.

Ich hab diese beiden Grabsteine im Sommer 2009 gefunden und ich erinnere mich noch gut daran. Es war einer dieser heißen Tage wie wir sie derzeit auch haben. Eben, als ich die beiden Steine mit Kreide bearbeitet hatte um die Schrift besser lesen zu können, stand plötzlich ein Mann hinter mir und fragte mich freundlich, was ich hier mache. Erschrocken drehte ich mich um und erklärte ihm kurz, dass ich eben versuche die hebräischen Inschriften zu lesen und zu übersetzen. Er erzählte mir darauf hin, dass er nebenan im Lagerhaus zu tun hatte und bemerkte, dass am Friedhof gearbeitet wird. Und dann begann er plötzlich, einige Inschriften zu lesen. Er las absolut korrekt und sicher und erzählte mir, dass er auf seinen Fahrten immer wieder jüdische Friedhöfe auf der Strecke besuche und ich vermutete, dass er wahrscheinlich mehr jüdische Friedhöfe kennt als ich. Er erzählte mir auch über seine Israelreisen, fragte mich nach meinen Lehrern, die er auch alle kannte und wir plauderten längere Zeit miteinander. Natürlich frage ich ihn neugierig, woher er die guten Hebräischkenntnisse hat. Seine Großmutter, erzählte er mir ein wenig traurig, hat ihm die Buchstaben und vieles andere gelehrt und wenn er das damals geschätzt hätte, hätte er vielleicht mehr daraus machen können. Aber er sei nur Vertreter für landwirtschaftliche Maschinen, hatte nebenan zu tun gehabt und wäre neugierig gewesen…

Ist es dieses Aufeinandertreffen mit dem unbekannten Herrn oder sind es die beiden Kindergrabsteine, die, in all ihrer Einfachheit, meine ersten Kindergrabsteine waren, die mir im Rahmen meiner Friedhofsdokumentationen begegneten?… Rachel und Lea Engel haben sich tief in meinem Gedächtnis festgesetzt. Seit 2009 möchte ich mich näher mit den Inschriften auf Grabsteinen von Kindern und jung Verstorbenen beschäftigen, 15 Jahre hat es gedauert. Aber jetzt gibt’s einen ersten einleitenden Artikel…

Transkriptionen, Aussprachehilfe und 62 Bildbeispiele sollen auch Menschen, die wenig oder kein Hebräisch können, helfen, anhand spezieller Formulierungen in der hebräischen Inschrift einen Kindergrabstein zu erkennen.



 

Kinder sind nie bekannt und berühmt, sie konnten noch keine großartigen Leistungen vollbringen, wenn sie früh sterben. Dennoch sind ihre Inschriften sehr oft auch für biografische Forschungen in hohem Maße verwendbar und von Interesse (der Unterschied wird besonders augenfällig, wenn man etwa christliche Kindergräber zum Vergleich heranzieht).

Wie eingangs schon angemerkt: Auf dem jüdischen Friedhof in Wiener Neustadt befinden sich ganz vorne, links vom Eingang, mehrere Kindergräber. Darunter jene von Rachel und Lea Engel, die beide im Juni 1898 gestorben sind. Beide Inschriften sind extrem kurz, trotzdem erfahren wir Vor- und Nachnamen der verstorbenen Mädchen, den Vor- und Nachnamen ihres Vaters, ihren Herkunftsort (wohl auch Wohnort) und natürlich in beiden Fällen das Sterbedatum. Außerdem sagt uns die hebräische Grabinschrift, dass der Vater beim Ableben seiner Töchter noch am Leben ist. Eigentlich eine ganze Menge in zwei Inschriften mit jeweils nur ca. 20 Wörtern. Sowohl Form und Größte de Grabsteine als auch die Inschrift deuten darauf hin, dass die beiden Mädchen bei ihrem Tod noch sehr jung waren. Ihr Sterbealter, die Todesursachen sowie den Namen ihrer Mutter sollten mit etwas genealogischer Recherche zu finden sein.

Was mich aber am meisten fasziniert und berührt: Es sind insbesondere bei kleinen Kindern und Jugendlichen Formulierungen, die immer mit besonders viel Liebe und mit großer Trauer ob des frühen Todes des Kindes, der viel zu früh verstorbenen Tochter oder des viel zu früh verstorbenen Sohnes verfasst wurden.
In diesem Sinne ist das Lesen von Inschriften auf Gräbern von Kindern und Jugendlichen immer auch ein Gedenken an die jungen Toten.

Aber wie erkennen wir überhaupt einen Grabstein eines Kindes oder einer / eines junge Verstorbenen?
Einen sehr bescheidenen Anfang, wie wir die speziellen Formulierungen in Grabinschriften von Kindern oder Jugendlichen besser verstehen können, macht dieser Artikel.

 

Auf den meisten jüdischen Friedhöfen finden wir ‒ so auch auf einigen Friedhöfen im Burgenland ‒ die Gräber von Kindern meist in eigenen Sektoren (etwa am älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt oder in Lackenbach).
Die Grabsteine von Kindern sind in der Regel deutlich kleiner als die der Erwachsenen und unterscheiden sich von der Form her oft nur marginal von schlichten Grabsteinen einfacher Gemeindemitglieder.

Selbstverständlich gibt es Ausnahmen, dass etwa Grabsteine von Kindern begüterter Eltern gar beeindruckende Grabsteine bekommen können.

2019 renovierter Grabstein Margarete Arnstein, 03. September 1907, jüdischer Friedhof Triest, gestorben mit 12 Jahren
2019 renovierter Grabstein Margarete Arnstein, 03. September 1907, jüdischer Friedhof Triest, gestorben mit 12 Jahren
 

Die Unterschiede zwischen einem Grabstein eines Kindes und dem einer/eines Erwachsenen sind aber so gut wie immer an der hebräischen Inschrift festzumachen.

In Inschriften für ein verstorbenes Kind ab dem Babyalter lesen wir etwa ילדjeled” oder ילדהjalda“, also “Knabe / Bub” oder “Mädchen”. Meist mit Artikel הילדha-jeled“, “der Knabe / der Bub” und הילדהha-jalda“, “das Mädchen”.


ילדjeled“, “Knabe”,
ילדהjalda“, Mädchen

Angemerkt sei noch, dass ילדjeled“, “Knabe” oft auch schlicht für “Kind” steht und geschlechtsneutral verstanden wird, vor allem in Verbindungen, also etwa, wenn ein zweites Nomen in enger Verbindung mit dem “jeled” steht, z.B: “ein Kind der Wonne” (s.u.).

Bei Jugendlichen, ungefähr im oder ab dem Pubertätsalter, lesen wir bei männlichen Kindern häufig בחורbachur” “Jüngling” bzw. “unverheirateter Mann”. Mit letzterer Bedeutung ist die Bezeichnung allerdings auch bei älteren unverheirateten Männern gebräuchlich!

August (Mose) Goldstein starb mit nur 23 Jahren und ist am jüdischen Friedhof Frauenkirchen begraben. Er war unverheiratet, wir erwarten die Statusangabe הבחורha-bachur” “der unverheiratete junge Mann”.


בחורbachur“, “unverheirateter Mann”,
בתולהbetula“, “Jungfrau”, “junge unverheiratete Frau”

Junge Frauen, die unverheiratet gestorben sind, werden meist als בתולהbetula” “Jungfrau” bzw. eben meist “junge unverheiratete Frau” bezeichnet. So wie בחורbachur” bei den Männern ist aber בתולהbetula” auch bei älteren Damen, die nicht verheiratet waren, üblich.

So starb etwa Josef (Meir) Braun mit 40 Jahren am 6. November 1934 und Maria (Mirjam) Werndorfer mit 47 Jahren am 16. Dezember 1904.
Josef Braun wird in Zeile 2 der hebräischen Grabinschrift als “chaschuv bachurlחשוב בחורל bezeichnet, ein Ausdruck, den Bernhard Wachstein als Epitheton katexochen, also als klassische Formulierung für einen gelehrten Jüngling bezeichnet. Man wäre vielleicht geneigt, dabei an einen jungen Mann in der Jeschiwa zu denken … Maria Werndorfer wird in Zeile 1 der hebräischen Grabinschrift als הבתולה הצנועה והחשובהha-betula ha-znu’a we-ha-chaschuva“, “die bescheidene und angesehene unverheiratete Frau” bezeichnet. Sie verstarb mit 47 Jahren an einem Herzschlag.


עלמהalma“, “junge Frau”

Weiters finden wir (fast ausschließlich) bei jungen Frauen das hebräische Wort עלמהalma” “junge Frau”, “junges Mädchen” oder eben mit Artikel העלמהha-alma“, “die junge Frau”, “das junge Mädchen”.
Johanna (Hendel) Hess starb mit 23 Jahren und 1 Tag am 21. August 1895 an Bauchtyphus in Eisenstadt und wird in Zeile 2 der hebräischen Grabinschrift als עלמהalma, als junge unverheiratete Frau bezeichnet…(die anmutig wie eine Gazelle, klug und gottesfürchtig sowie der Liebling ihrer Eltern war).

Grabstein Ausschnitt Johanna (Hendel) Hess, 21. August 1895, Markierung: ALMA
Grabstein Ausschnitt Johanna (Hendel) Hess, 21. August 1895, Markierung: ALMA

 


Kleiner Exkurs עלמה und בתולה “alma” und “betula”.

Mag sein, dass dabei zunächst die berühmte Jesajastelle Jesaja 7,14 in den Kopf kommt (Stichwort christliche Weihnachtsbotschaft, Jungfrauengeburt, Prophezeiung des Jesaja…). Die Diskussion ist bekannt. Manche meinen, dass das hebräische Wort עלמה, “alma” im Jesajavers eben nicht die “physische Jungfrau” meint, sondern die junge Frau (die nicht notwendigerweise Jungfrau sein muss). Dass die griechische Bibelübersetzung, die Septuaginta, das hebräische Wort “alma” mit Παρθένος, “parthenos”, übersetzt, was “Jungfrau” bedeutet, wird dabei als Fehlübersetzung betrachtet oder als irrelevant ignoriert.

לָ֠כֵ֠ן יִתֵּ֨ן אֲדֹנָ֥י ה֛וּא לָכֶ֖ם א֑וֹת הִנֵּ֣ה הָעַלְמָ֗ה הָרָה֙ וְיֹלֶ֣דֶת בֵּ֔ן וְקָרָ֥את שְׁמ֖וֹ עִמָּ֥נוּ אֵֽל׃
Siehe, die Jungfrau (vs. “die junge Frau”) hat empfangen, sie gebiert einen Sohn und wird ihm den Namen Immanuel geben.

Sehen wir uns kurz und nur überblicksmäßig die hebräische Bibel an, wie die beiden Wörter verwendet und verstanden werden:

עלמהalma“, so zum Beispiel Köhler-Baumgartner[1], ist ein “mannbares Mädchen, eine junge Frau” (bis zur Geburt des 1. Kindes). Gesenius[2] übersetzt wortident “mannbares Mädchen”, weist aber deutlicher darauf hin, dass “alma” nicht als “Jungfrau” (בתולהbetula“), auch nicht als verehelicht od. nicht verehelicht” zu verstehen ist.
בתולהbetula“, so Köhler Baumgartner, ist “die dem Eheleben noch Entzogene”, die “Jungfrau”, “das erwachsene Mädchen, das vom Mann nichts weiß”; auch die Jungfrauen, die als Brautgeleit fungieren, sind בְּתוּל֣וֹת (Psalm 45,15 u.a.). Gesenius übersetzt ebenfalls “Jungfrau” und zitiert Genesis 24,16a וְהַֽנַּעֲרָ֗ טֹבַ֤ת מַרְאֶה֙ מְאֹ֔ד בְּתוּלָ֕ה וְאִ֖ישׁ לֹ֣א יְדָעָ֑הּ “Das Mädchen war sehr schön, eine Jungfrau, die noch kein Mann erkannt hatte”.

 

 

Eine statistische Anmerkung: Am älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt (mit 1.100 Grabsteinen) finden wir 53x das Wort בתולהbetula“, das Wort עלמהalma” nur 22x. Einerseits wohl der Geschichte (Belegung 1679 – 1874) geschuldet, andererseits verständlich, weil (fast immer) בתולהbetula” im Gegensatz zu עלמהalma” altersunabhängig zu verstehen ist.

Gelegentlich finden wir בתולהbetula” und עלמהalma” gemeinsam in einer Inschrift, etwa in jener der Chaidel Singer, die am 13. Oktober 1868 starb und am älteren jüdischen Friedhof von Eisenstadt begraben ist. In ihrer Inschrift heißt es in Zeile 2:

Es ist sie, die unverheiratete Frau / die Jungfrau (“betula“) Chaidel, Tochter des verstorbenen e(hrbaren) H(errn) Arje (= Löb) Singer…

und in Zeile 4:

die junge, teure Frau (“alma“), anmutsvoll und angesehen…

Grabstein Chaidel Tochter Arje [Löb] Singer, 27. Tischre 629 = Dienstag, 13. Oktober 1868, Markierungen: BETULA und ALMA
Grabstein Chaidel Tochter Arje [Löb] Singer, 27. Tischre 629 = Dienstag, 13. Oktober 1868, Markierungen: HA-BETULA und HA-ALMA

Da wir in Zeile 6 der hebräischen Inschrift lesen, dass sie in der Blüte ihrer Jahre gestorben ist, dürfen wir davon ausgehen, dass sie bei ihrem Tod wohl zwischen 20 und 40 Jahren alt war.

Ausnahmen, nämlich dass “alma” auch bei Frauen verwendet wird, die nicht mehr jung waren bei ihrem Tod, sind sehr selten. So etwa bei Lea Schick, Tochter des großen Mose Schick, der väterlicherseits von Gerschon Saul Jomtov Lipmann Heller abstammt. Lea wird gleich in Zeile 2 als unverheiratete Frau (Jungfrau), also als בתולהbetula” bezeichnet, und zwei Wörter weiter in der selben Zeile als עלמהalma“, also eigentlich als “junge Frau” (und sehr ähnlich zu Chaidel Singer, mit dem Unterschied, dass Chaidel als junge Frau starb! S.o.).
Lea Schick starb aber in hohem Alter. Auch in ihrer Grabinschrift lesen wir “Lange währten ihre Tage”.Alma” ist daher in diesem Fall wohl schwerlich als junge Frau zu verstehen, sondern muss als Frau verstanden werden, die noch keine Kinder bekommen hat.

Grabstein Lea Tochter Moses Schick, 11. Tischre 634 = Donnerstag, 02. Oktober 1873, Markierung betula und alma in Zeile 2
Grabstein Lea Tochter Moses Schick, 11. Tischre 634 = Donnerstag, 02. Oktober 1873, Markierung BETULA und ALMA in Zeile 2. Lea Schick starb in hohem Alter.

 

נערna’ar“, “Knabe, Jüngling, jedenfalls ein männlicher Mensch, der (noch) nicht verheiratet ist”, und weiblich נערהna’ara“, “mannbares, lediges junges Mädchen”, “junge Frau” finden wir für Kinder, die im Alter von nur zwei Jahren verstorben (etwa Jizchak, gestorben am 10. März 1620 und begraben am jüdischen Friedhof in Bechhofen, Mittelfranken in Deutschland) sind genauso wie für Frauen/Männer, die unverheiratet waren und in höherem Alter verstorben sind. So etwa Abraham Liebmann, der am 09. August 1870 im Alter von 78 (!) Jahren verstorben und auch am jüdischen Friedhof Bechhofen begraben ist. In seiner hebräischen Grabinschrift heißt es übrigens נער זקןna’ar saken“, “ein betagter Knabe”.


נערna’ar“, “Knabe, Jüngling”,
נערהna’ara“, “mannbares, lediges junges Mädchen”

Recht häufig finden wir נערהna’ara” “Mädchen” in Kombination mit בתולהbetula“, also נערה בתולהna’ara betula“, “jungfräuliches Mädchen”.
Erwartungsgemäß kommt diese Kombination vor allem bei jungen Frauen zwischen dem 12. und 15. Lebensjahr bis hinauf ins dritte Lebensjahrzehnt vor. Und doch finden wir die Formulierung נערה בתולה “ein Mädchen, eine Jungfrau” bzw. “ein jungfräuliches Mädchen” gelegentlich auch bei älteren Frauen: Babette (Babette bat Jaakow) Reinemann, gest. 12. Juni 1917 und begraben am jüdischen Friedhof in Bechhofen starb im Alter von 50 Jahren und wird in der hebräischen Grabinschrift als נערה בתולהna’ara betula“, “jungfräuliches Mädchen” bezeichnet. Dieselbe Formulierung findet sich bei Sara Steinbock aus Cronheim, die am 18. März 1865 ledig verstarb und 84 Jahre alt war. Begraben ist Sara Steinbeck auch am jüdischen Friedhof in Bechhofen.

 

Attribute


יֶ֣לֶד שַׁעֲשֻׁעִ֔ים, “jeled scha’aschu’im“, “ein Kind der Liebkosungen”

Eines der häufigsten Attribute für Kinder (sowohl bei Mädchen als auch bei Buben) ist ילד שעשועים, “jeled scha’aschu’im“, Jeremia 31,20 (über Ephraim): יֶ֣לֶד שַׁעֲשֻׁעִ֔ים “ein liebes Kind” oder “ein Kind der Liebkosungen” (nota bene: dabei wird nicht unterschieden, ob das Kind männlich oder weiblich ist, man hält sich ausnahmslos ans Bibelzitat!).

 


נחמד \ נחמדה, “nechmad / nechmada” (m/F), “liebenswürdig”,
נעים \ נעימה, “na’im / ne’ima” (m/f), “anmutsvoll”

Attribute wie נחמד \ נחמדהnechmad / nechmada” (männlich / weiblich), “liebenswürdig” oder נעים \ נעימה na’im, “liebenswert / anmutsvoll”, kommen zwar immer wieder bei Kindern vor, wir finden sie aber ebenso bei jungen Menschen und mitunter sogar bei sehr alten Personen. So starb Chawa (Eva), das Kind von Natan Dajan, im Jahr 1700 mit 2.5 Jahren und ist am jüdischen Friedhof in der Königsstraße, Hamburg-Altona, begraben. Chawa wird in der hebräischen Grabinschrift als ילדה נחמדה, “jalda nechmada“, als “liebenswürdiges Mädchen” bezeichnet.
Anna Maria Leyser geb. Horn, Witwe des Kaufmanns Jacob Leyser und Tochter des Trödlers Burghard Horn und der Rachel Markus, starb mit 75 Jahren am 30. März 1876 und ist am alten jüdischen Friedhof in Krefeld begraben. Sie wird in der hebräischen Grabinschrift als “liebenswürdige Frau” אשה נחמדהischa nechmada“, bezeichnet.
Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass נעים \ נעימה insbesondere auch in Zusammenhang mit einer schönen “angenehmen” Stimme vorkommt.

Häufig finden wir bei vor allem noch sehr jungen Kindern das Attribut רךrach” bzw. רכּהraka” (weiblich), “zart”.

Im Gegensatz dazu finden wir die Formulierung רך (ב)שניםrach (ba)schanim” bzw. רכּה בשנים (weiblich) “raka ba-schanim“, “zart an Jahren” vor allem bei jungen Frauen, etwa, wenn sie im Kindbett gestorben sind.

Eine wirklich seltene Ausnahme ist die hebräische Grabinschrift von Nanetti Ungar, die am 15. Oktober 1834 mit 53 (!) Jahren starb und als “teure Frau, jung an Jahren” bezeichnet wird (siehe unten Beispielfotos 3. Reihe 1. Foto links).


רך בשניםrach ba-schanim (m), רכּה בשניםraka ba-schanim” (f), “zart an Jahren”


Zu רך (ב)שניםrach (ba)schanim” siehe den Kommentar des Raschi sowie den Targum zu Genesis 41,43 “…man rief vor ihm (Josef) aus: ‘Abrech’…” …ויקראו לפניו אברך…. Die Buchstaben des Wortes אברךavrech” werden als Notarikon gesehen und in die Eigenschaften Josefs aufgelöst: אב בחכמהav be-chochma” und רךrach“, “ein Vater der Weisheit” und “jung/zart an Jahren”; s. auch GenesisRabba 90,3 mit gleicher Deutung.

Recht beliebt ist bei männlichen Jugendlichen auch ein Zitat aus dem Traktat Kidduschin 32b des babylonischen Talmud: יניק וחכיםjanik we-chakim“, “der Knabe, ein Junger und Gelehrter” nach einem Zitat aus dem babylonischen Talmud, Traktat Kidduschin 13b.


ילדה קטנה, “jalda ktana“, “kleines Mädchen”


Vielleicht prima vista nicht ganz verständlich ist, obwohl es doch öfter vorkommt, dass “kleines Mädchen” mit der Statusangabe “Frau” gepaart wird, also etwa “hier liegt begraben das kleine Mädchen, Frau XY…”. Rösel Lichtenstadt starb im Februar 1720 und wird in der hebräischen Grabinschrift sowohl als “kleines Mädchen” ילדה קטנהjalda ktana” bezeichnet als auch als “Frau” מ’ “m'”, abgekürzt für מרתmarat“. Also vor dem Namen eine Statusangabe (“Frau”), die uns deutlich zeigt, dass Statusangaben nie verlässliche Hinweise auf das Alter der oder des Verstorbenen liefern. In diesem Fall gibt es nicht einmal einen Hinweis auf den Lebensabschnitt, in dem sich die Verstorbene befand (wie es etwa bei כלהkalla“, “Braut” der Fall wäre, s. u. Foto Jachedl Piesling). Sehr ähnlich bei Friederike Liebmann (Lea Reichele bat Mosche), die am 18. März 1820 im Alter von 11 Monaten in Kusterdingen-Wankheim (nahe Stuttgart) starb und in Zeile 2 der hebräischen Grabinschrift ebenfalls als “kleines Mädchen” und “Frau” bezeichnet wird.

Oft wird ילדה קטנהjalda ktana“, “kleines Mädchen” mit משכלת גדולהmaskelet gdola“, “große Verständige” ergänzt, dem gelegentlich dann noch das “Frau” folgt. Ob die “große Verständige” auch bei Rösel Lichtenstadt etwa mitschwingt und zB aus Platzgründen nicht ergänzt werden konnte, lässt sich schwer beurteilen. Das biblische Zitat dahinter ist Sprüche 19,14: אִשָּׁ֥ה מַשְׂכָּֽלֶת׃ “verständige Frau”.

Grabstein Regina (Rachel / Recha) Horwitz (auch Horowitz), 19. Elul 594 = Dienstag, 23. September 1834
Grabstein Regina (Rachel / Recha) Horwitz (auch Horowitz), 19. Elul 594 = Dienstag, 23. September 1834, Markierung: JALDA MASKELET “(Dies ist das Grabmal von Rachel, dem) VERSTÄNDIGEN (und liebenswerten) MÄDCHEN”. Regina Horwitz starb mit 3 Jahren

 

In jedem Fall ist das “Frau” in Kombination mit “kleinem Mädchen” immer eine idealisierende Formulierung.

Wesentlich spärlicher ist das Vorkommen der analogen maskulinen Formen. Für ילד קטןjeled katan“, “Das kleine männliche Kind” / “der kleine Bub”, kenne ich keinen einzigen Beleg, für הנער קטןha-na’ar katan” bzw. ohne Artikel נער קטןna’ar katan“, “(der) kleine Knabe” konnte ich auch nur zwei Belege finden: Michel ben Josef Ansbach, gest. am 05. September 1759, begraben am jüdischen Friedhof Bechhofen. Michel Ansbach wird als “kleiner Knabe und großer Verständiger” bezeichnet. Fast identisch bei Netanel ben David Ber Baum, der wahrscheinlich Mai/Juni 1854 verstarb, auch am jüdischen Friedhof Bechhofen begraben ist und ebenfalls als “kleiner Knabe und großer Verständiger” bezeichnet wird.
Wenig überraschend, dass wir nur einen einzigen Beleg finden für die Kombination von נערna’ar” und “Herr” bzw. “geehrter Herr”: Felix (Kaleb ben Chaim) Schnapper, gest. 10. März 1867 und begraben am jüdischen Friedhof in Bingen (Deutschland), wird in der hebräischen Grabinschrift als נער “Jüngling” bezeichnet und als “geehrter Herr” כ”ה. Nun wäre man sicherlich, wäre sein Sterbealter nicht bekannt, geneigt zu fragen, warum ein Knabe mit vermutlich 13 oder 15 Jahren als “geehrter Herr” tituliert wird. Felix Schnapper war allerdings nachweislich 42 Jahre alt, als er verstarb. Folglich stellt sich die Frage, warum er als נערna’ar” bezeichnet wird in diesem Alter. Wahrscheinlich war er unverheiratet, בחור “bachur”, “unverheirateter Mann” würde vielleicht eher zu erwarten sein.

Nur am Rande noch ein “nota bene”: Vorsicht ist geboten bei der Übersetzung des hebräischen כ’ “k”. Die korrekte Übersetzung dieser Abkürzung von כבוד “kvod” vor einem Namen ist “der ehrenwerte N. N.”, aber eben nicht “der ehrenwerte Herr N. N.”! Wenn “der ehrenwerte Herrr” gemeint wäre, würde כ”ה für כבוד הרב “kvod ha-rev” oder כבוד האדון “kvod ha-adon” stehen.


נקטף באבוniktaf be-ibo” (m), נקטפה באבהniktefa be-iba” (f), “gepflückt in seiner / ihrer Blüte”


Abschließend erwähnt werden soll noch die häufig anzutreffende Formulierung “gepflückt (noch) in seiner Blüte” נקטף באבוniktaf be-ibo” bzw. weiblich נקטפה באבהniktefa be-iba“, “gepflückt in ihrer Blüte” nach Ijob 8,12 עֹדֶ֣נּוּ בְ֭אִבּוֹ לֹ֣א יִקָּטֵ֑ףodenu be-ibo lo jikatef“, “in Blüte und noch nicht gemäht”.
Zumindest ebenso häufig begegnen wir der Formulierung בחצי ימיוba-chazi jamav” bzw. weiblich בחצי ימיהba-chazi jameha“, “zur Hälfte seiner / ihrer Tage” (vgl. Psalm 102,25 “Mein Gott, raff mich nicht hinweg in der Mitte meines Lebens” אֵלִ֗י אַֽל־תַּ֭עֲלֵנִי בַּחֲצִ֣י יָמָ֑י).

Es handelt sich dabei in beiden Fällen naturgemäß um keine Formulierungen in Inschriften auf Gräbern von sehr kleinen (jungen) Kindern, also Kindern in den ersten Lebensjahren, sondern wird meist verwendet bei jung Verstorbenen im Alter von ca. 20 bis ca. 50 Jahren (gleichermaßen bei Frauen als auch Männern).
Trotzdem finden wir die Formulierung עוד באבוod be-ibo“, “noch in seiner Blüte”, o. Ä., auch in Inschriften auf Grabsteinen von Kindern, die aber keine Kleinkinder mehr sind, wie etwa Arpad Einhorn, der am 17. Juli 1899 mit 12 Jahren verstarb (siehe unten auch das erste Bildbeispiel).

Kennen wir die wichtigsten für Inschriften auf Gräbern von Kindern und jungen Verstorbenen typischen Formulierungen, hilft uns das zu erkennen, dass wir, so diese vorkommen, üblicherweise nicht mit Verstorbenen höheren Alters rechnen dürfen.

 


[1] Lexicon in Veteris Testament Libros. Köhler, Ludwig und Walter Baumgartner, Leiden 1958 [Zurück zum Text (1)]

[2] Gesenius Wilhelm, Handwörterbuch über das Alte Testament, Leipzig 14 1905 [Zurück zum Text (2)]

 

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