Der Transkribierer

Über den Grabstein I

Über Verwendung und Position des jüdischen Grabsteines

Die Verwendung von Grabsteinen geht zurück auf die biblische Zeit. Siehe etwa Genesis 35,20, wo es nach dem dem Tod von Rachel, der Frau Jakobs, heißt:

וַיַּצֵּ֧ב יַעֲקֹ֛ב מַצֵּבָ֖ה עַל־קְבֻרָתָ֑הּ הִ֛וא מַצֶּ֥בֶת קְבֻֽרַת־רָחֵ֖ל עַד־הַיּֽוֹם׃
Jakob stellte einen Denkstein auf ihr Grab; dort ist noch heute das Grabdenkmal Rachels.

Weiters 2 Samuel 18,18:

וְאַבְשָׁלֹ֣ם לָקַ֗ח וַיַּצֶּב־ל֤וֹ בְחַיָּו֙ אֶת־מַצֶּ֙בֶת֙ אֲשֶׁ֣ר בְּעֵֽמֶק־הַמֶּ֔לֶךְ כִּ֤י אָמַר֙ אֵֽין־לִ֣י בֵ֔ן בַּעֲב֖וּר הַזְכִּ֣יר שְׁמִ֑י וַיִּקְרָ֤א לַמַּצֶּ֙בֶת֙ עַל־שְׁמ֔וֹ וַיִּקָּ֤רֵא לָהּ֙ יַ֣ד אַבְשָׁל֔וֹם עַ֖ד הַיּ֥וֹם הַזֶּֽה׃
Avschalom hatte sich schon zu Lebzeiten den Gedenkstein, der jetzt im Königstal steht, herbeischaffen und für sich aufstellen lassen; denn er sagte sich: Ich habe keinen Sohn, um die Erinnerung an meinen Namen wachzuhalten. Er benannte den Stein nach seinem Namen; deshalb heißt er bis zum heutigen Tag Denkmal Avschaloms.

Oder auch Ezechiel 39,15:

וְעָבְר֤וּ הָעֹֽבְרִים֙ בָּאָ֔רֶץ וְרָאָה֙ עֶ֣צֶם אָדָ֔ם וּבָנָ֥ה אֶצְל֖וֹ צִיּ֑וּן עַ֣ד קָבְר֤וּ אֹתוֹ֙ הַֽמְקַבְּרִ֔ים אֶל־גֵּ֖יא הֲמ֥וֹן גּֽוֹג׃
Wenn diese Männer durch das Land ziehen und einer von ihnen Menschengebein findet, soll er die Stelle kennzeichnen, bis die Totengräber es im Tal der Pracht Gogs begraben.

Auf Hebräisch heißt der Grabstein also מַצֵּבָה “Matzeva” (Plural: Matzevot). Gelegentlich finden wir statt “Matzeva” auch צִיּוּן “Zijun”, “Zeichen, Steinmal als Wegmarke”, etwa über einem Grabstein in 2 Könige 23,17:

וַיֹּ֕אמֶר מָ֚ה הַצִּיּ֣וּן הַלָּ֔ז אֲשֶׁ֖ר אֲנִ֣י רֹאֶ֑ה וַיֹּאמְר֨וּ אֵלָ֜יו אַנְשֵׁ֣י הָעִ֗יר הַקֶּ֤בֶר אִישׁ־הָֽאֱלֹהִים֙ אֲשֶׁר־בָּ֣א מִֽיהוּדָ֔ה וַיִּקְרָ֗א אֶת־הַדְּבָרִ֤ים הָאֵ֙לֶּה֙ אֲשֶׁ֣ר עָשִׂ֔יתָ עַ֖ל הַמִּזְבַּ֥ח בֵּֽית־אֵֽל׃
Und als dann der König fragte: Was ist das für ein Denkmal, das ich hier sehe?, antworteten ihm die Männer der Stadt: Das ist das Grab des Gottesmannes, der aus Juda gekommen war und vorausgesagt hatte, was du am Altar von Bet-El getan hast.

Manchmal finden wir das Wort “Zijun” auch anstelle der Einleitungsformel in einer hebräischen Grabinschrift:

Inschrift Helene Gutmann: Zeilengerechte Transkription und Übersetzung 2 Zeilen
[1] Grabzeichen ציון קבורת
[2] des liebenswürdigen Mädchens, dem Liebling ihrer Eltern, Rana, הילדה הנעימה מחמד אבותיה רנה

Gutmann Helene – 30. Mai 1872

 

Der Grabstein wurde/wird errichtet, um einerseits das Andenken an die oder den Toten aufrechtzuerhalten und andererseits auch das Grab überhaupt bzw. besser identifizieren zu können. Grundsätzlich sollte er immer am Kopfende des Grabes positioniert (“Headstone”) werden, ein Brauch, den wir auch auf christlichen Friedhöfen finden. Dabei ist (in unseren Breitengraden) das Grab meist Richtung Osten, Richtung Jerusalem ausgerichtet oder präziser gesagt, die Beine zeigen in Richtung Osten, damit sozusagen klar ist, in welche Richtung man gehen muss, wenn der Messias gekommen ist. Darum bekommen manche Juden der Chabad-Lubawitsch-Bewegung auch einen (Wander)Stab mit ins Grab. Dennoch finden wir auch die Ausrichtung des Kopfes Richtung Osten und oft auch Grabsteine am Fuß des Grabes (“Footstone”), die meist kleiner sind und zeigen sollen, wo der Körper begraben ist, damit man nicht irrtümlich daraufsteigt.

Üblicherweise wird der Grabstein erst nach einem Jahr bzw. knapp davor, während des 11. Monats nach dem Tod aufgestellt, vor allem, damit das Gedächtnis an die oder den Toten nicht zu schnell verblasst. Der praktische Grund dafür ist, dass sich die Erde bis dahin genügend gesetzt hat. Allerdings gibt es auch jüdische Gemeinden, in denen es Brauch ist, den Grabstein einen Tag nach dem “Schiwe-Sitzen” oder nach den “Schloschim” zu setzen.
In der rabbinischen Literatur wird der Grabstein auch als נפש “Seele” bezeichnet, was jedenfalls die Dringlichkeit, ihn aufzustellen, unterstreicht, siehe etwa Mischna Traktat Schekalim 2,5:

רַבִּי מֵאִיר אוֹמֵר, מוֹתַר הַמֵּת, יְהֵא מֻנָּח עַד שֶׁיָּבֹא אֵלִיָּהוּ. רַבִּי נָתָן אוֹמֵר, מוֹתַר הַמֵּת בּוֹנִין לוֹ נֶפֶשׁ עַל קִבְרוֹ:
Rabbi Meïr sagt: Was [von einer Geldsammlung] für einen Toten übrigbleibt, liege bis Elijahu kommt * d. h. es ist zweifelhaft, ob das Geld zu Gunsten seiner Hinterbliebenen oder zur Errichtung eines Grabmals verwendet werden darf; es muss daher unberührt bleiben, bis der Prophet diesen Zweifel löst. Rabbi Natan sagt: Man verwendet es zu einem Denkmal auf seinem Grabe.

Auf vielen alten jüdischen Friedhöfen stehen die Grabsteine oft schief und sehr nahe beieinander. Siehe etwa den älteren jüdischen Friedhof von Eisenstadt:

In vielen Fällen ist das ein Resultat des Zahns der Zeit, dass die Grabsteine mehr und mehr in die Erde einsinken, sich neigen und sich der Abstand zwischen den Steinen dadurch verringert oder zumindest sich zu verringern scheint.

Grundsätzlich gilt es als respektlos, mehrere Leichen gemeinsam zu bestatten. Wenn es gemacht wird, muss zwischen den Körpern ein Mindestabstand von sechs Handbreiten gehalten werden.

אין נותנין ב’ ארונות זה על זה ואם נתן כופין העליון שיפנה ואם יש ביניהם עפר ששה טפחים מותר:
Man darf nicht zwei Särge übereinander legen. Sollte das der Fall sein, muss der obere Sarg entfernt werden. Zwischen ihnen muss ein Abstand von sechs Handbreit sein, sechs Handbreit Erde ist erlaubt und angemessen.

Schulchan Aruch, Jore Dea, 362. Siehe auch babylonischer Talmud, Traktat Bava Batra 100b

Ein jüdischer Friedhof, der in diesem Zusammenhang immer wieder als Beispiel genannt wird, ist der schon 1478 angelegte Alte Jüdische Friedhof in Prag, wo aus Gründen des Platzmangels ca. 100.000 Verstorbene in bis zu zwölf Schichten bestattet wurden. Und auch in Prag kann davon ausgegangen werden, dass die sechs Handbreit Abstand (ca. 6 Inch = 6 x 15,25cm) zwischen den Särgen eingehalten wurden, und zwar vertikal genauso wie horizontal! Wenn einmal tatsächlich nicht genügend Platz zwischen den Särgen wäre, muss eine stabile Teilung zwischen den Särgen angebracht werden anstelle der vorgeschriebenen Distanz. Diesen Zweck erfüllt der eiserne Zaun um das Grab, wie wir es bei Rabbi Meir Eisenstadt am älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt finden, siehe das Bild weiter unten im Artikel (nach unten springen)!

Meist steht also ein Grabstein für eine Verstorbene oder einen Verstorbenen. Gelegentlich finden sich auch auf traditionellen orthodoxen jüdischen Friedhöfen (wie etwa dem älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt) Doppelgrabsteine. Unter etwa 1.100 Grabsteinen sind es dort 26 Doppelgrabsteine. Von diesen sind 20 Grabsteine solche, wenn zwei enge Verwandte (Mutter und Sohn, Vater und Sohn, Ehepaar…) binnen eines Jahres verstorben sind. Da der Grabstein erst nach einem Jahr gesetzt wurde, konnte man dann den Doppelgrabstein in Auftrag geben. Von den restlichen 6 Doppelgrabsteinen differieren die Todesdaten um 1 Jahr und 4 Monate (1758/59), knapp 3 Jahre (01/1754 und 12/1756), 3 Jahre und 9 Monate (1765 und 1768), 5 Jahre und knapp 2 Monate (1679 und 84), 12 Jahre und knapp 1 Monat (1730 und 1742) und 13 Jahre und 3 Wochen (1798 und 1811). Bei letzterem wurde allerdings kein neuer Grabstein gesetzt, sondern die Rückseite des bereits vorhandenen Grabsteines genommen. Wird ein neuer Grabstein benötigt (wie bei den o.g. 5 Doppelgrabsteinen), ist das möglich, der alte Grabstein mit entfernter Grabinschrift darf auch für ein neues, anderes Grab verwendet werden.

Der Grabstein muss eine Inschrift haben, damit er nicht einer heidnischen Stele oder Ähnlichem gleicht. Traditionell finden wir vor allem elaborierte hebräische Grabinschriften, heute herrscht vielerorts der Brauch, kürzere Inschriften zu wählen.
Gelegentlich finden wir bei großen Gelehrten auffällig kurze Inschriften, was meistens darauf zurückzuführen ist, dass diese zu Lebzeiten den ausdrücklichen Wunsch geäußert haben, die Grabinschrift bescheiden und kurz zu halten. Siehe etwa die Inschrift des großen Rabbi Meir Eisenstadt am älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt:

Eisenstadt Meir – 07. Juni 1744

oder jene des gelehrten Mannes Meyer Bunzlau:

Bunzlau Meyer – 18. Jänner 1862

 

Beinhalten soll die Inschrift die Einleitungsformel, den Name des/der Verstorbenen, den Namen des Vaters, das Todesdatum nach dem jüdischen Kalender und die Schlusseuglogie. Der Name der Mutter findet sich, wenn überhaupt, meist am Schluss der Grabinschrift, fast immer eine Zeile unterhalb der Schlusseulogie wie bei Samuel Spitzer, gest. 24. April 1932, begraben am jüngeren jüdischen Friedhof Eisenstadt. Eher die Ausnahme (zumindest auf den jüdischen Friedhöfen des Burgenlandes) ist, dass der Name der Mutter eine Zeile oberhalb der Schlusseulogie steht wie bei Jakob Buxbaum, gest. 22. Oktober 1937, begraben ebenfalls am jüngeren jüdischen Friedhof Eisenstadt.

Nach dem in der hebräischen Grabinschrift immer und ausschließlich angegebenen hebräischen Sterbedatum wird auch die Jahrzeit berechnet (nicht nach dem umgerechneten bürgerlichen Datum).

Die hebräische Inschrift sollte sich an der Frontseite des Grabsteines befinden, eine fakultative deutsche, englische, italienische usw. Inschrift, gewöhnlich kürzer als die hebräische, befindet sich auf der Hinterseite des Grabsteines, also auf der dem Grab zugewandten Seite.
Obwohl wir auch im Burgenland auf allen jüdischen Friedhöfen viele Grabsteine finden, bei denen sich die hebräische Inschrift nicht auf der Frontseite, also nicht auf der Außenseite des Grabes befindet, nimmt man es bei den Grabsteinen der Frommen und großen Gelehrten üblicherweise ganz genau. Am eindrücklichsten ist das wohl am Grabstein des Rabbi Schalom Ullmann aus Lackenbach, gest. 1825, zu sehen. Der Grabstein steht so knapp an der Friedhofsmauer, dass man kaum zwischen Mauer und Grabstein stehen kann. Auch die hebräische Grabinschrift an der äußeren Seite, der Frontseite des Grabsteines, kann man daher nur bedingt gut lesen, fotografieren geht überhaupt nur von der Seite aus. Auf der dem Grab zugewandten inneren Seite des Grabsteines befindet sich in diesem Fall aber keine deutsche Inschrift, sondern ebenfalls eine hebräische Inschrift, die den Namen, alle Ehrentitel und seine Herkunft angibt. Der Grabstein steht beim Kopf (headstone), die Beine zeigen exakt Richtung Osten. Ähnlich, aber nicht ganz so augenfällig, auch beim berühmtesten Gelehrten der Region, bei Rabbi Meir Eisenstadt (MaHaRaM ASCH) am älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt:

 [Zurück zum Text]

Grabstein Rabbi Meir Eisenstadt (MaHaRaM ASCH), 27. Siwan 504, älterer jüdischer Friedhof Eisenstadt
Grabstein Rabbi Meir Eisenstadt (MaHaRaM ASCH), 27. Siwan 504, älterer jüdischer Friedhof Eisenstadt
 

Priester (Kohanim) dürfen, um sich nicht zu verunreinigen, weder einen Leichnam berühren, noch sich unter einem Dach mit einer oder einem Toten aufhalten. Außer er ist selbst ein Trauernder, darf der Kohen auch den Friedhof nicht betreten und steht gewöhnlich beim Begräbnis außerhalb des Friedhofes. Um die Gräber dennoch besuchen zu können, finden wir Gräber von Kohanim meist in der Nähe des Friedhofzaunes. Auf manchen jüdischen Friedhöfen gibt es auch den “derech kohanim”, den “Weg der Priester”, der, extra angelegt, den Kohanim erlaubt, den Friedhof eben auf diesem Weg zu betreten. So etwa auf dem alten orthodoxen jüdischen Friedhof in der Csörsz-Straße in Budapest.

Jüdischer Friedhof Lackenbach: Gräber von Kohanim nahe der Friedhofsmauer
Jüdischer Friedhof Lackenbach: Gräber von Kohanim nahe der Friedhofsmauer
 

Siehe besonders auch meinen Artikel “Der Herr segne und behüte dich“.

 

2 Kommentare

  1. Pfeiffer Herbert

    Lieber Herr Reiss, lieber Johannes, Du hast mir ein mir bis dahin unbekanntes, neues Tor zum Verständnis des Judentums geöffnet. Ich hoffe lange genug aktiv bleiben zu können, um ein Informationszentrum über die Entwicklung der jüdischen Gemeinde in Lackenbach aufzubauen. Ganz besonders wichtig scheint mir die Dokumentation des jüdischen Friedhofes, des guten Platzes, in Lackenbach, ist er doch das einzige noch klar erkennbare jüdische Kulturerbe.
    Liebe Grüße

    Herbert Pfeiffer

    Entstehung der jüdischen Gemeinde Lackenbach Dorferneuerungsprojekt

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