oder: Über mich
Der Transkribierer ist Johannes Reiss.
Geboren 1959, bis 13. Juni 2023 Leiter/Geschäftsführer des Österreichischen Jüdischen Museums in Eisenstadt und ab 1. Dezember 2023 in Pension.
Als ich 1984, noch während des Studiums (Judaistik und Altsemitische Philologie und orientalische Archäologie), nach Eisenstadt in den Museumsdienst kam, waren es von Anfang an die beiden jüdischen Friedhöfe am Ende der ehemaligen Judengasse, in der sich auch das jüdische Museum befindet, die mich unendlich faszinierten. Beschämt muss ich gestehen, dass ich auch nach Abschluss des Studiums nicht in der Lage war, eine Schlusseulogie in einer hebräischen Grabinschrift zu erkennen, geschweige denn sie zu übersetzen. Und es lag nicht etwa an fehlenden Hebräischkenntnissen, sondern hebräische Grabinschriften waren während des ganzen Studiums (obwohl es sich um ein philogoisch-kulturkundliches Studium handelte) kein Thema gewesen. Abkürzungen, Inschriftenformulare usw. waren für mich ein Buch mit sieben Siegeln.
Allein am älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt mit ca. 1.100 Grabsteinen, es kann nicht oft genug betont werden, finden wir keinen einzigen nicht-hebräischen Buchstaben! Eine ähnliche Situation, maximal einige wenige Inschriften mit deutschen oder ungarischen Namenszusätzen o.Ä., zeigen auch alle anderen 13 jüdischen Friedhöfe des Burgenlandes. Zumindest innerhalb Österreichs eine Besonderheit.
In der Nacht vom 30. auf den 31. Oktober 1992 wurden 88 Grabsteine des jüngeren jüdischen Friedhofes in Eisenstadt geschändet: mit Hakenkreuzen, Nazi-Parolen und SS-Runen.
Seine Seele ging hinweg in Reinheit und er starb mit einem göttlichen Kuss im Alter von 71 Jahren[1].
Abseits aller politischen und gesellschaftlichen Folgen dieser Tat (Gründung der Menschenrechtsorganisation SOS-Mitmensch, Lichtermeer, s. besonders den Standardartikel zum 30. Jahrestag dieser Tat) hatte diese Schändung für mich persönlich (natürlich auch für das jüdische Museum, für dessen inhaltliche Ausrichtung ich verantwortlich war) eine Langzeit-Folge:
Die Tatsache, dass die mit so viel Liebe und oft so großer Weisheit geschriebenen Inschriften durch diese grässlichen, primitiven und menschenverachtenden Parolen “überschrieben/übermalt” wurden, führte damals zu meiner Entscheidung, alle Inschriften zu transkribieren, zu übersetzen sowie zu kommentieren und die Texte damit für die Nachwelt nachhaltig zu sichern. Wichtig war mir aber auch, dass ich diese Inschriften, von denen ich so viele so wunderschön finde, den Menschen, die sie nicht lesen können, verständlich machen kann. Deshalb vor allem die Übersetzungen und die Kommentare.
Im November 1995, in den Spätherbsttagen, als die Täter endlich gefasst wurden, durfte ich meine erste Printpublikation “פה ק”ק איזענשטאדט. Hier in der heiligen jüdischen Gemeinde Eisenstadt” im Festsaal des Rathauses der Freistadt Eisenstadt vorstellen.
2017 konnte ich den Friedhof digitalisiert und vor allem genealogisch völlig überarbeitet, online stellen: Der jüngere jüdische Friedhof in Eisenstadt, alle Grabsteine, Personen- und Lageplanregister. Die genealogische Arbeit leistete praktisch ausschließlich Traude Triebel.
Zu diesem Zeitpunkt waren die Transkription, Übersetzung und vor allem die nachhaltige Archivierung der hebräischen Grabinschriften längst zu meiner großen Leidenschaft geworden.
Noch ein kurzer Rückblick: Nach 1995 gab es noch einige Museumsjahre ohne Grabsteine und Inschriften ;-) oder zumindest “fast”. Denn 1996 folgte die Ausstellung “Im Bündel des Lebens. Tod, Trauer und Begräbnis im Judentum”.
1997 feierte das Museum sein 25jähriges Bestehen. Meine “Jubiläums”-Publikation “Aus den Sieben-Gemeinden. Ein Lesebuch über Juden im Burgenland” wurde Anfang Mai 1997 im Haydnsaal des Schlosses Esterházy in Eisenstadt präsentiert. Aber auch dieses Buch sollte sehr deutlich machen, dass die Reise in die ehemaligen jüdischen Gemeinden des Burgenlandes heute eine Reise zu noch existierenden jüdischen Friedhöfen und einigen wenigen Gedenktafeln ist. 1938 hatte das endgültige Aus allen jüdischen Lebens im Burgenland bedeutet. Und so abgedroschen es auch immer klingen mag, die jüdischen Friedhöfe sind im Burgenland die einzigen und letzten (sichtbaren) Zeugen eines jahrhundertelang existierenden jüdischen Lebens.
Meine darauf folgenden (beruflichen) Jahre waren neben Ausstellungen (u.a. “Nicht ganz koscher?” ‒ über die Kaschrut, “Der Wein erfreut des Menschen Herz” ‒ über den koscheren Wein) vor allem geprägt von zwei Publikationen: “Weil man uns die Heimatliebe ausgebläut hat. Ein Spaziergang durch die jüdische Geschichte Eisenstadts” sowie “Hebräisch. Eine kurzweilige Reise durch das Alef-Bet“, beide Eisenstadt 2002, das Hebräischbuch dann in der 2. Auflage 2012, ein Buch, in dem auch das Lesen von Grabinschriften ausführlicher zur Sprache kommt.
Das allererste digitale Friedhofsprojekt war dann gleich ausgesprochen spannend und auch herausfordernd: 2009 hatte ich die Ehre, die Inschriften der zwei Jahre zuvor wiederentdeckten und neu renovierten mittelalterlichen Grabsteine meiner Heimatstadt Wiener Neustadt transkribieren, übersetzen und kommentieren zu dürfen. Immerhin gehört zumindest einer dieser Grabsteine mit Datierung auf 1268 zu den ältesten jüdischen Grabsteinen in Europa, zwei andere sind definitiv 1. Hälfte 14. Jahrhundert.
…und als die Zeit für die junge Taube (Tochter des Jona) herannahte, da flog sie hoch in den Himmel hinauf…[2]
2010 startete das Projekt mit den noch vorhandenen von der Gestapo vor 1945 in Auftrag gegebenenen Fotos des heute so gut wie nicht mehr existenten jüdischen Friedhofes Mattersburg.
2015 folgte dann das große Projekt “älterer jüdischer Friedhof in Eisenstadt“, das bereits im November 2015 abgeschlossen werden konnte, siehe die Nachlese der Präsentation am 8. November 2015.
Dazu kamen Starts von Projekten, die noch lange nicht abgeschlossen sind, wie die jüdischen Friedhöfe von Triest, Währing oder Kobersdorf und als jüngst (2023) hinzugekommenes Projekt Lackenbach.
Und spannende kleine, aber abgeschlossene Projekte wie die Grabsteinfragmente aus der Malzgasse in Wien mit der seltenen Datierung “nach der seleukidischen Ära”, oder den Sensationsfund von 28 jüdischen Grabsteinen aus dem niederösterreichischen Ebenfurth aus der Zeit zwischen 1622 und 1669…
Außerdem gibt es immer wieder kleine Projekte, deren Ziel nicht die vollständige Dokumentation eines jüdischen Friedhofes ist, sondern es werden dabei “nur” einige Grabsteine mit vorwiegend hebräischen Grabinschriften von kleineren oder größeren Reisen mitgenommen. Diese Grabinschriften sind im Bereich bzw. der Kategorie “en-passant” zu finden.
Very grateful to be able to print out this information for my children. It is amazing to me, who grew up in a distant place to see the evidence of my ancestors‘ existence.[3]
Mein Anliegen:
Neben der nachhaltigen, möglichst umfassenden Dokumentation, Aufarbeitung und Archivierung der Grabinschriften war und ist es mir von Anfang an wichtig, dass die Inschriften ‒ und damit allermeist auch das Foto des Grabsteines ‒ allen Menschen jederzeit, vor allem niederschwellig und ohne zusätzliche Kosten (mit Ausnahme der Internetkosten natürlich) zugänglich sind.
Die entscheidenden Vorteile einer dynamischen Online-Datenpräsentation gegenüber Printpublikationen, statischen Websites oder auch Datenbanken ohne interaktive Möglichkeiten liegen vor allem in der Möglichkeit zum permanenten und direkten Dialog weltweit (v.a. via Kommentare), der wiederum immer wieder zeitnahe Ergänzungen und Erweiterungen sowie, wenn nötig, Korrekturen ermöglicht.
Oder noch deutlicher: Adressaten meiner Arbeit sind in erster Linie die (Nachkommen der ehemals) österreichischen (italienischen, ungarischen etc.) Jüdinnen und Juden und ‒ im Unterschied zu den konventionellen Publikationsformen ‒ nur in Ausnahmefällen (z.B. bei Artikeln über Grabinschriften) das akademische Fachpublikum.
Eine Dame aus Israel, die mir mit vielen Kommentaren im Blog beim Lesen der hebräischen Inschriften half, schrieb mir zu neuen Website eine sehr nette Email, in der es u.a. heißt:
There’s a Hebrew song that says “there are people with a heart of stone, and there are stones with a human heart”. I’m glad you were able to keep your monumental work and that you are still into saving the human hearts of the old stones.[4]
Wenn vielleicht auch manche darüber wenig begeistert sein werden: Ich werde genau so wie Pipi Langstrumpf auch weiter “rückwärtsgehen”, um voranzukommen, nämlich um meine Arbeit so machen zu können wie ich glaube, dass sie gemacht werden muss:
[1] Zeile 2 der Grabinschrift Elias (Abraham) Gabriel, gest. 15. Februar 1878, begraben am jüngeren jüdischen Friedhof Eisenstadt.[Zurück zum Text (1)]
[2] Zeile 14 der Grabinschrift Juliana (Jentel) Machlup, geb. Klaber, gest. 15. März 1838, begraben am älteren jüdischen Friedhof Eisenstadt. [Zurück zum Text (2)]
[3] Kommentar vom 30.5.2010. [Zurück zum Text (3)]
[4] Im Refrain des Liedes הכותל (Text: Yosi Gamzu, Musik: Dov Seltzer) heißt es:
יש אנשים עם לב של אבן,
יש אבנים עם לב אדם.
Lieber Johannes,
ich möchte mich dem Kommentar von Anita Koch anschließen. Dein Wissen ist gigantisch und dann hast du auch noch die Fähigkeit, das so interessant zu erzählen, dass man gar nicht aufhören kann, dir zuzuhören. Ich hoffe, noch viel Interessantes von dir zu lesen bzw. zu hören.
Weißt du, ob ich das Buch “Aus den Sieben-Gemeinden” ganz normal in einer Buchhandlung bestellen kann? In welchem Verlag ist es erschienen?
Danke und liebe Grüße
Christa
Liebe Christa, vielen lieben Dank! Das Buch ist seit langem vergriffen. Aber antiquarisch bekommt man es noch glaub ich. Das Buch wurde 1997 im Museumsverlag verlegt. Daher weiß ich auch, dass das Museum keine Exemplare mehr hat.
Lieber Johannes,
herzliche Gratulation zu deiner voll gelungenen und beeindruckenden Website. Ein riesiges Danke, dass du unter immensen Arbeitseinsatz sämtliche Daten der ojm-Website, insbesondere der Koscheren Melange, sichergestellt hast und deine so wertvolle Arbeit beharrlich und in der gewohnten 1A-Qualität fortsetzt.
Ich habe jedenfalls fasziniert und interessiert schon einige Zeit auf deiner Website verbracht – die Zeit verflog wie im Flug.
Mit lieben Grüßen
Anita Koch