Der Transkribierer

Über die hebräischen Grabinschriften II

Über die unterschätzte hebräische Grabinschrift

Die Toten wissen alles ‒ wie im Traum teilt ihnen ihre Seele alles mit[1].

Die meisten hebräischen Grabinschriften hier im Blog stammen von jüdischen Friedhöfen im Burgenland. Das hat natürlich einen triftigen Grund:
Auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes (also jenem Gebiet, in dem ich sozusagen knapp 40 Jahre beruflich und wissenschaftlich sozialisiert wurde ;-) ), gibt es insgesamt 14 jüdische Friedhöfe mit etwa 8.000 Grabsteinen (vom Norden nach Süden: Kittsee, Gattendorf, Frauenkirchen, Eisenstadt älterer jüdischer Friedhof, Eisenstadt jüngerer jüdischer Friedhof, Sauerbrunn, Mattersburg, Kobersdorf, Lackenbach, Deutschkreutz, Stadtschlaining, Oberwart, Rechnitz und Güssing).

Prima vista unterscheidet sich die Situation der jüdischen Friedhöfe im Burgenland ‒ zieht man als Beurteilungsparameter den Zustand der Friedhöfe sowie die (grundsätzliche) Notwendigkeit von Pflege- und Sanierungsmaßnahmen heran ‒, kaum von jener der jüdischen Friedhöfe in anderen Bundesländern.

Und doch gibt es einen entscheidenden Unterschied:

Auf den jüdischen Friedhöfen des Burgenlandes finden wir ‒ mit wenigen und von der Größe her kaum nennenswerten Ausnahmen (Oberwart, Sauerbrunn) ‒ ausschließlich Grabsteine mit hebräischen Grabinschriften. Auf dem älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt etwa, belegt zwischen 1679 und 1874, finden wir in den 1.100 Grabinschriften keinen einzigen nicht-hebräischen Buchstaben! Auf den jüdischen Friedhöfen von Kittsee, Gattendorf, Frauenkirchen, Lackenbach und Kobersdorf ist die Situation praktisch dieselbe.

Warum aber haben die jüdischen Friedhöfe im Burgenland nahezu ausschließlich hebräische Grabinschriften? Sie unterscheiden sich jedenfalls dadurch deutlich von fast allen jüdischen Friedhöfen in Österreich (eine Ausnahme sind etwa der alte jüdische Friedhof in der Seegasse in Wien und bis zu einem gewissen grad auch der jüdische Friedhof Währing).
Offenbar handelt es sich einerseits um ‒ nicht verschriftlichte ‒ Traditionen die Inschriften in hebräischer Sprache und Schrift zu verfassen, andererseits dürfte, ungeachtet aller äußeren assimilatorischen Tendenzen einzelner Gemeindemitglieder, damit die geistige Heimat der jüdischen Gemeinden, insbesondere jener auf dem Gebiet der esterházyschen Sieben-Gemeinden, widergespiegelt werden: gelebte Toratreue und Orthopraxie.

Über ein europäisches Jahrtausend hinweg, seit dem 10. Jahrhundert, gibt es in ganz Aschkenas keine andere Sprache der Steine als das Hebräische. Die Ausschließlichkeit lehrt, dass der Friedhof in die Sphäre der Heiligung gehört, wie sie in Liturgie und Studium, ja, dem gesamten kulturell-religiösen Leben erfahrbar wird.

Brocke Michael (Hrsg), Verborgene Pracht: Der jüdische Friedhof Hamburg-Altona ‒ Aschkenasische Grabmale, 28

 

Ein Unterschied jedenfalls, der im Vergleich mit den meisten anderen jüdischen Friedhöfen Österreichs naturgemäß andere Arbeitsschritte (von Fachkenntnissen rund um die Aufarbeitung und Archivierung der Friedhöfe bis hin zu manuellen Pflegearbeiten) notwendig macht. Was wiederum differenzierte politische Entscheidungen im Hinblick auf die Förderung der öffentlichen Hand zur Folge hat, oder, praxisnäher formuliert, haben sollte. Siehe auch “Über die hebräischen Grabinschriften I”.

Wenn wir über hebräische Grabinschriften im Burgenland, in Wien oder in Tschechien sprechen, sprechen wir über Inschriften, die häufig mehr als 30 Zeilen umfassen. Lassen wir Adelsgräber etwa des 18. Jahrhunderts oder insbesondere natürlich lateinische Priester-Epitaphe außen vor (und selbst da würde der zahlenmäßige Vergleich nicht passen), gibt es meines Wissens keine Religion und keine Kultur, in der wir auch nur annähernd häufig so lange, gelehrte und zitatenreiche Grabinschriften finden wie unter den hebräischen Inschriften auf jüdischen Friedhöfen vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts.

Schon die alten hebräischen Inschriften bestehen aus festen Elementen, variabel zusammengefügt. Eine Einleitung ist fakultativ, Daten und Namen samt Vatersnamen sind unabdingbar, dazu tritt der lobende Nachruf, der nicht unerlässlich ist und der, falls vorhanden, von einem einzigen Epitheton bis zu recht großer Ausführlichkeit und formaler Kunstfertigkeit reichen kann. Nicht fakultativ ist der beschließende Segenswunsch. Alles das zeigen uns die Altonaer Inschriften, die bereits an eine jahrhundertealte Tradition der literarischen Gattung “hebräische Grabschrift” anschließen.

Brocke Michael (Hrsg), Verborgene Pracht: Der jüdische Friedhof Hamburg-Altona ‒ Aschkenasische Grabmale, 28f

Auch und besonders die Grabinschriften, die wir auf den burgenländischen jüdischen Friedhöfen finden, stehen ganz in der jahrhundetealten Tradition der literarischen Gattung “hebräische Grabschrift”.

Unbestritten scheint mir zu sein, dass hebräische Inschriften für insbesondere nichtjüdische BesucherInnen einerseits ein Faszinosum eines jüdischen Friedhofes ausmachen, andererseits für viele leider auch lediglich “das Fremde” widerspiegeln. Bis zu einem gewissen Grad vielleicht auch wenig verwunderlich, wenn weder Name noch Datum gelesen werden können. Im schlimmsten Fall aber begleitet von Unverständnis und Respektlosigkeit.

Das Besondere an hebräischen Grabinschriften sind aber gar nicht die für nicht Hebräischkundige unleserlichen Namen und Sterbedaten, sondern es sind die mitunter textintensiven “Lobteile” der Inschriften. Jene Teile, die in idealisierter Sprache auf liebevolle und oft ausgesprochen gelehrte Weise Zwiesprache mit dem Toten halten oder auch einen Dialog mit den Hinterbliebenen führen.

Niemals erlischt ja die Vorstellung, dass der von uns Geschiedene in einer anderen Welt weiterlebt. Wir pflegen mit ihm Zwiesprache, teilen ihm Leid und Freud mit, oder holen uns bei den heiligen Männern, wie es der große Gelehrte Maharam Asch einer war, in Not und Gefahr Trost und Rat.

Sandor Wolf, Die Entwicklung des jüdischen Grabsteines und die Denkmäler des Eisenstädter Friedhofes, in: Wachstein B., Die Grabinschriften des Alten Judenfriedhofes in Eisenstadt, Eisenstädter Forschungen, hrsg. von Sándor Wolf, Band I, Wien 1922, XIX.

 

Besser als vom verwitterten Grabstein werden die eigentlich interessanten Daten meist aus Steuerlisten, Melderegistern oder Matrikelbüchern gewonnen[2].

In jedem Fall handelt es sich um jene Inschriftenteile, die von Nicht-Fachleuten und (leider vor allem von) Genealogen in ihrer (auch wissenschaftlichen) Bedeutung völlig unterschätzt, wenn nicht überhaupt ignoriert werden, sondern auch von Fachleuten aus dem Bereich der Geschichtswissenschaften allzu oft falsch eingeschätzt werden.

Das mag zwar gelegentlich zutreffen, aber bedenken wir die oft schlampig geführten und unvollständigen, mitunter auch falschen Einträge in den Matrikenbüchern, müssen die hebräischen Grabinschriften in jedem Fall als Primärquellen erster Güte eben auch für Historiker:innen und Genealogen gelten. Nicht zuletzt deshalb, weil wir häufig in den Inschriften Hinweise auf familiäre Verhältnisse finden, die in Matriken gar nicht berücksichtigt werden (können). Es sei mir die wissenschaftlich kaum belegbare Anmerkung erlaubt, dass ich den Eindruck habe, dass gar nicht so selten auf die persönlichen Daten (wie insbesondere die Genauigkeit des Sterbedatums) in den hebräischen Inschriften mehr Verlass ist als auf jene in den Matriken. Dies ist dem Umstand zu verdanken, dass in hebräischen Inschriften Sterbedatumsangaben oft mit sehr viel Mühe und Akribie verfasst werden:

und wurde zur Ruhe gebracht am Freitag danach, E(rev) Sch(abbat) Q(odesch), P(arascha) “Ki Tavo” (Deuteronomium 26,1 – 29,8 “Wenn du (in das Land) kommst”) 635 n(ach der) k(leinen) Z(eitrechnung) = Freitag, 17. September 1875.

Grabinschrift Rosa Schlesinger, 15. September 1875, jüdischer Friedhof Mattersburg

Auf solche Angaben wird, davon bin ich überzeugt, so wir sie korrekt interpretieren und umrechnen, mehr Verlass sein als auf so manchen Matrikeneintrag.

Noch ein Beispiel aus einer meiner “Lieblingsinschriften”:

Sie verstarb an der Cholera am Schabbat “Fürchte dich nicht, denn Gott hat gehört die Stimme des Knaben”, 18. Marcheschwan 5634.

Tedeschi Adele – 08. November 1873

In der kurzen, aber sehr schönen Inschrift von Adele Aschkenasi / Tedeschi, die an der Cholera starb, dient die Angabe der Parascha nicht dazu, das Sterbedatum anzugeben (dieses wird in der nächsten Zeile ohnehin mit 18. Marcheschwan beschrieben), sondern einzig für die Mitteilung, dass es einen Sohn gab, der ‒ ganz offensichtlich ‒ die Cholera überlebte. Also eine ausgesprochen wertvolle biografische Angabe, über die wir ohne hebräische Grabinschrift nicht verfügen würden.
Mehr zum Thema “hebräische Grabinschriften und biografische Angaben” findet sich in meinen beiden in Cleveland, Ohio, USA, anlässlich der 39. Internationalen Konferenz zur Jüdischen Geneaolgie 2019 gehaltenen Vorträgen “Hilfe, ich kann nicht Hebräisch, aber ich brauche hebräische Quellen für meine genealogischen Forschungen” und “Was wir lernen sollten von den Friedhofsprojekten des Österreichischen Jüdischen Museums“.

 

Aber hebräische Grabinschriften sind in der Regel ‒ jenseits der Namens- und Datumsangaben und auch jenseits häufiger biografischer Details ‒ bedeutend mehr: Sie liefern uns, unabhängig von den persönlichen Daten, vor allem auch Auskunft über die inneren jüdischen Strömungen der jeweiligen jüdischen Gemeinde. Die Grabinschrift wird damit zu einer Primärquelle zur Erforschung der jüdischen Geschichte, konkrete Fragen etwa sind u.a.:

  • Stimmt das, was auf dem Grabstein steht oder genauer: inwieweit stimmt es mit der Realität überein, inwieweit ist es nur Idealvorstellung?
  • Wie hoch war der Bildungsgrad der jüdischen Gemeinde aus jüdisch-traditioneller Sicht?
  • Was wurde in der Gemeinde gelesen, gelernt, studiert und daher zumindest von einem Großteil der Gemeindemitglieder auch verstanden?
  • Welche Quellen (“nur” hebräische Bibel oder auch rabbinische Literatur?) wurden verwendet?
  • Gibt es ‒ und wenn ja, in welchem Ausmaße ‒ Assimilationstendenzen (z. B. erkennbar durch Zusätze in der Inschrift wie: “Friede seiner Asche” o.ä.)?
  • War die Gemeinde orthodox, liberal, neoorthodox…?
  • Ist die Verwendung der hebräischen Sprache in der Inschrift ein Zeichen für die Orthodoxie der Gemeinde? (Dies muss zwangsläufig nicht der Fall sein.)
  • Wer waren die Gelehrten der Gemeinde? (Man bedenke nur den oft enormen finanziellen Aufwand einer jüdischen Gemeinde, um die möglichst besten ‒ und daher auch “teuren” rabbinischen Autoritäten als Gemeinderabbiner anzuwerben).
  • Welche Helfer hatte der Rabbiner? Rabbinatsassessoren, Lehrer etc.? Über welche Ausbildung und Bildung verfügten diese?
  • Gab es nur rezipierende oder auch schöpferische, schaffende Gelehrte? Welche Werke wurden publiziert? Denken wir etwa daran, dass viele große jüdische Gelehrte als “Beinamen” den Titel des von ihnen verfassten Hauptwerkes tragen.
  • Wer war Mitglied des rabbinischen Gerichts?
  • Welche Ehrentitel werden verwendet und wurden daher verliehen, eine Frage, die vor allem Aufschluss über die jüdische Infrastruktur der Gemeinde gibt.
  • Kann aufgrund der Inschriften auf den einen oder anderen regional-geprägten Brauch (Minhag) geschlossen werden?
  • Wieviele Leviten und Kohanim (Priester) gab es?
  • Wie wurden die Frauen behandelt? (welche Ehrentitel hatten sie und was bedeutet “Erhoben durch Reichtum ward ihr Herz nicht hoch. Ihr gewichtiges Wort legte sie bei der Obrigkeit für die Gemeinschaft wie für einzelne ein. Tugendhaft und fromm, gab sie den Impuls zur Erbauung zweier Synagogen.”[3].)
  • Gab es in der Gemeinde chassidische und/oder mystische Tendenzen?
  • Gab es gar Annäherungen an die christliche Gemeinde? Z. B. in theologischer Hinsicht?
  • Welche Vereine waren besonders aktiv? Enthalten die Inschriften nähere Informationen zu Vereinen wie der Chevra Kadischa?
  • Wurden die jüdischen Vornamen ‒ z. B. nach einer kabbalistischen Tradition nach einer schweren Krankheit (über eine solche erfahren wir selten in den herkömmlichen Quellen) ‒ geändert?
  • Hat der Text Aussagekraft für die Erforschung der hebräischen Sprache?

Schließlich noch ein Beispiel, mit welch schönen, gelehrten und zitatenreichen Worten der Dialog zwischen dem Hingeschiedenen und den Hinterbliebenen komponiert wurde. Es handelt sich um die Grabinschrift von Wilhelm (Chajim Seev) Wolf, Weingroßhändler in Wiener Neustadt, gestorben mit 71 Jahren am 29. Mai 1901, begraben am jüngeren jüdischen Friedhof in Eisenstadt:

Güte für Tausende hast Du von dem, was Du besessen hast, in Freude verschenkt.
Solange Du gelebt hast, hast Du für den himmlischen Dienst heilige Zeiten angesetzt.
Gottesfurcht und Lehre hast Du ins Herz Deiner Nachkommenschaft eingezeichnet.
Angenehme und gute Eigenschaften hast du geliebt und besessen.
Dein Gedenken möge zum Segen sein im Munde aller Geschöpfe.
Du warst wie ein Karneolstein, der überall dort erstrahlte, wo die Tora gehört wurde.
In den Gassen Jerusalems sollen Dir Denkmale erbaut werden.
Voll von Tränen war das Auge, denn Du bist hingegangen, etwa 70 Jahre alt.
‚Dein Stolz, Israel, liegt erschlagen auf deinen Höhen‘, klagt man.
Dass Du den Enkeln und Urenkeln nicht aus dem Gedächtnis entschwindest, ist unser einziger Segenswunsch beim Hinscheiden unseres Bruders.
Hier liegt begraben
der ehrenwerte und ehrenhafte Herr Chajim Seev, Sohn unseres großen Lehrers und Rabbiners Esriel Halevi Wolf, das Andenken des Gerechten möge bewahrt werden.
Sein friedlicher Wohnsitz, der Ort seines ehrenvollen Aufenthaltes, war 30 Jahre lang die Stadt Wiener Neustadt. Dort verschied er in gutem Namen am Mittwoch, dem 11. des Monats Siwan, und er wurde mit großem Wehklagen am 12. desselben Monats des Jahres ‚Ach, Waisen wurde wir, ohne Vater‘ (= 661) nach der kleinen Zeitrechnung (= 29. Mai 1901), begraben.


[1]Pirke de-Rabbi Elieser, Warschau 1851 (Neudruck Jerusalem 1969/70), 34; 79b.[Zurück zum Text (1)]

[2] Peter Honigmann, Dokumentation jüdischer Grabinschriften in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden I/1993, 267. [Zurück zum Text (2)]

[3] Bernhard Wachstein, Die Inschriften des Alten Judenfriedhofes in Wien, 1. Teil 1540 (?)-1670, 2. Teil 1696-1783, Quellen zur Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich, hrsg. von der historischen Kommission der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, IV, Wien 1912, 424, Grabstein 560. Es handelt sich um den Grabstein von Liba, Frau Isaschar Beer ha-Levi und Tochter des Märtyrers Zacharia aus Eisenstadt, die 1662 gestorben ist und auf dem jüdischen Friedhof in der Seegasse begraben wurde. [Zurück zum Text (3)]

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

The maximum upload file size: 10 MB. You can upload: image, audio, video, document, spreadsheet, interactive, text, archive, code, other. Links to YouTube, Facebook, Twitter and other services inserted in the comment text will be automatically embedded. Drop file here