Sie streckt ihre Hand nach dem Spinnrocken…

Sie streckt ihre Hand nach dem Spinnrocken…

Headerbild: Copyright: Archaeological Museum of the University of Münster – finger distaffs

 

Handlungsstrang 1:

Es begann vor 5 Jahren damit, dass mir eine liebe Freundin Anfang April 2019 einen Link zu einer längeren Diskussion in einer hebräischsprachigen Gruppe auf Facebook, die sich mit Geschichte, vorwiegend jüdischer Geschichte und Geschichte Israels befasst, schickte, in der es um ein mir bis dahin nicht bekanntes Symbol auf Grabsteinen ging. Seit damals geht mir dieses Symbol nicht aus dem Kopf, noch zumal die vielen Kommentare zum Beitrag verschiedenste Meinungen zur Bedeutung des Symbols äußern.

Der Fragende in der Gruppe macht den Zusatz “nicht jüdisch”, was leider offen lässt, ob er meint, dass es sich um einen nichtjüdischen Grabstein in Europa handelt oder um ein nichtjüdisches Symbol auf einem jüdischen Grabstein. In der hebräischsprachigen Gruppe wird, was wenig verwundert, das Symbol aber ohnehin vor allem im jüdischen Kontext diskutiert.
Abgesehen davon würde sich der Fragende meines Erachtens aber ohnehin irren, wenn er einen nichtjüdischen Grabstein meint, weil ich zu 99.9% sicher bin, dass es sich bei seinem Foto zur Frage um einen der beiden Frauengrabsteine mit dem Symbol am jüdischen Friedhof Rodenberg handelt.

Grabstein einer Frau am jüdischen Friedhof Rodenberg bei Hannover
Grabstein einer Frau am jüdischen Friedhof Rodenberg bei Hannover (Foto von der o.g. Facebookdiskussion)

Handlungsstrang 2:

Im Zuge meines seit Dezember 2023 laufenden Projektes “Jüdische Friedhöfe im alten Landkreis Grafschaft Schaumburg” hatte ich auch die Inschrift der Röschen Oppenheimer zu bearbeiten. Röschen starb mit 31 Jahren im Jahr 1839 und ist am jüdischen Friedhof von Hessisch-Oldendorf, heute Landkreis Hameln-Pyrmont in Niedersachsen (Deutschland), begraben. Auf ihrem Grabstein finden wir auch dieses seltene und zunächst rätselhafte Symbol. Mir selbst ist das Symbol das erste Mal vor einigen Tagen bei Röschen Oppenheimer untergekommen. Höchste Zeit also, dass ich mich noch einmal ernsthaft mit dem Symbol beschäftige.


 

Was stellt das Symbol dar?

Um über die Bedeutung des Symbols seriös nachdenken zu können, ist es vor allem notwendig, klar festmachen zu können, was man eigentlich sieht, was das Symbol genau darstellt.

Nun, aber was sehen wir? Schon diese Frage scheint ‒ zumindest prima vista ‒ eben nicht ganz klar beantwortbar zu sein. Die Antworten in dieser recht langen und hoch interessanten Diskussion in der oben erwähnten Facebookgruppe etwa reichen von einer Insignie wie etwa der Fasces bzw. näherhin einem Symbol der römischen [faschistischen] Behörden (Bündel Ruten mit einem Beil darüber und ein römischer Adler) über einen Schmetterling (mit allen Varianten), die Libelle, die Schwanzflosse eines Fisches und die Eintagsfliege bis hin zum Spinnrocken und den Schabbatkerzen der jüdischen Hausfrau.

Also spannt sich der Bogen der Deutungen von nichtjüdischen Symbolen auf nichtjüdischen Grabsteinen bis hin zu nichtjüdischen Symbolen auf jüdischen Grabsteinen und schließlich jüdischen Symbolen auf (naturgemäß) jüdischen Grabsteinen.

 

Schmetterlinge, Bienen und “Schmetterbienen”

Am häufigsten finden wir die Vermutung, dass es sich um einen Schmetterling oder eine Art Schmetterling handelt. In diesem Zusammenhang entstand auch das Wort “Butterbees” (“Schmetterlingsbienen”), weil auf Grabsteinen der Dönme, also jener “Kryptojuden” in der Türkei, die nach außen hin den Islam praktizieren, etwas seltsame, nämlich bienenartige Schmetterlingsabbildungen zu finden sind. Bildbeispiele und mehr Informationen über die Symbole auf den Grabsteinen der Dönme im sehr ausführlichen Artikel von Andrew Gough über die “ Butterbees of the Dönme“. Gough geht in seinem Artikel vom Symbol der Bienen bzw. Bienenstöcken auf Grabsteinen aus, die Symbole für die Transformation, den Tod, darstellen. Daher lag es für ihn in Folge nahe, die Schmetterlingssymbole mit anatomischen Merkmalen von Bienen auf den Grabsteinen der Istanbuler Dönme-Gemeinschaft näher zu untersuchen.

 

Lob der tüchtigen Frau

Einen ganz anderen Ansatz verfolgt ein Blogger, der laut Impressum Professor für Geschichte des jüdischen Volkes an der Universität Tel Aviv ist, in seinem ursprünglich aus einer Mailingliste entstandenen Blog “ Oneg Schabbat” (“Freude am Schabbat”), ein Blog, das es schon seit 2011 gibt.

Im Artikel geht es um einen israelischen Touristen, der die Kleinstadt Rodenberg in der Nähe von Hannover besuchte und auf dem örtlichen jüdischen Friedhof eben dieses Symbol entdeckte, das nicht zu den gängigen Symbolen auf jüdischen Grabsteinen gehört. Der Fund löste Fragen über Fragen aus, die örtlichen Historiker wussten nichts über die Bedeutung zu sagen. Handelt es sich um ein Berufssymbol der Grabsteinmetzzunft, ist das Symbol eigentlich ein jüdisches Symbol oder ein nichtjüdisches, das für einen jüdischen Grabstein übernommen wurde?

Der Autor von “Oneg Schabbat”, der zu Rate gezogen wurde, weist richtigerweise darauf hin, dass sich die beide gefundenen Symbole auf Grabsteinen von jüdischen Frauen befinden (übrigens auch “unseres” am Grabstein der Röschen Oppenheimer! am jüdischen Friedhof von Hessisch-Oldendorf, nicht weit entfernt von Rodenberg).

Damit lag naütürlich die Assoziation zu Sprüche 31,19 “Lob der tüchtigen Frau” auf der Hand:

יָ֭דֶיהָ שִׁלְּחָ֣ה בַכִּישׁ֑וֹר וְ֝כַפֶּ֗יהָ תָּ֣מְכוּ פָֽלֶךְ׃
Sie streckt ihre Hand nach dem Rocken, und ihre Finger fassen die Spindel.

Das Symbol dürfte also einen Spinnrocken darstellen, historische Bildbeispiele (auch “Oneg Schabbat” bringt Beispielbilder) scheinen die Vermutung zu belegen:

Osculatorien, Fingerrocken im Museum von Valladolid
Osculatorien, Fingerrocken im Museum von Valladolid[3]
 

Schabbatkerzen und die Schwanzflosse eines Fisches

Aber auch zum Blogartikel in Oneg Schabbat gibt es einige Kommentare, darunter einen, der hinterfragt, welchen Sinn es haben sollte, ein Gerät zur Wollverarbeitung auf einem jüdischen Grabstein darzustellen. Eine Frage, die meines Erachtens obsolet ist, bedenkt man den gesamten Kontext von Sprüche 31,10-31, dem so schönen Lob der tüchtigen Frau.

Wie auch immer, der Kommentator (Micha Magen) ist der Meinung, dass es sich beim Symbol um einen Kerzenhalter handelt. Und das Kerzenanzünden der Schabbatkerzen ist, so der Kommentator nicht ganz unrichtig, etwas, was am meisten mit jüdischen Frauen in Verbindung gebracht wird. Veranlasst zu diesem Kommentar hat ihn ein Bild aus einem Blogartikel im Blog der Bestsellerautorin E.M. Powell, in dem alltägliche Gegenstände im Mittelalter gezeigt werden. Darunter auch ein Kerzenständer, der “unserem” Symbol zugegeben sehr ähnlich sieht:

https://empowell.blogspot.com/2015/05/everyday-medieval-possessions.html
Kerzenhalter (in der Mitte)[3]

Eine Kommentatorin (Mena R.) antwortet, dass es in jedem Fall zwei Kerzenhalter sein müssten, weil, das ist jetzt meine Anmerkung, die jüdische Hausfrau bekanntlich zwei Kerzen am Schabbat anzündet, eine für זָכ֛וֹר֩ אֶת־י֥֨וֹם הַשַּׁבָּ֖֜ת “Gedenke des Schabbat” und eine für שָׁמ֛֣וֹר אֶת־י֥וֹם֩ הַשַּׁבָּ֖֨ת “Befolge den Schabbat”.
Die Dame hat recht.
Allerdings ergänzt sie in ihrem Kommentar, dass es ihr so scheint, als würde das Symbol irgendwie an die Schwanzflosse eines Fisches erinnern und belässt die Bedeutung des Symbols für sie persönlich als ein Rätsel ‒ vorerst, wie sie schreibt.

 

Müßig, noch einmal festzuhalten, dass ich ziemlich sicher bin, dass es sich bei unserem zunächst sehr rätselhaften Symbol um einen Spinnrocken handelt in Anlehnung an Sprüche 31,19.

 

[1] Quelle: Wikimedia [Zurück zum Text (1)]

[2] Quelle: Wikimedia [Zurück zum Text (2)]

[3] Quelle: Osculatorios del Museo de Valladolid – Wikimedia [Zurück zum Text (3)]

[4] Quelle: Blog von E.M. Powell [Zurück zum Text (4)]

 

1. Artikel der kleinen Reihe über Symbole auf jüdischen Grabsteinen: “Der Herr segne und behüte dich. ‒ Die segnenden Priesterhände. Symbole auf jüdischen Grabsteinen I

2. Artikel der kleinen Reihe über Symbole auf jüdischen Grabsteinen: “Deshalb gab er ihr den Namen ‘Träneneiche'”. Symbole auf jüdischen Grabsteinen II.

3. Artikel der kleinen Reihe über Symbole auf jüdischen Grabsteinen: “Dem Ouroboros auf der Spur. Die Ewigkeitsschlange auf den jüdischen Friedhöfen von Kobersdorf & Lackenbach. Symbole auf jüdischen Grabsteinen III. Symbole auf jüdischen Grabsteinen III.

 

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