Es sollte eigentlich “nur” ein kleiner Facebookbeitrag werden anlässlich des Jahrzeittages des Samuel Bondi, der am 5. Adar 5621 = 15. Februar 1861 starb. Das wurde er auch, mit dem Echo darauf habe ich allerdings nicht gerechnet. Nicht mit so vielen erfreulich positiven wie auch mit weniger erfreulichen negativen Kommentaren.
Der Blogbeitrag soll sozusagen zusammenfassend, komprimiert und vor allem übersichtlicher als es die Facebookkommentare ermöglichen, den Inhalt und die Interpretationsprobleme besprechen.
Der 5. Adar war im Jahr 5621 Freitag, der 15. Februar. An diesem Tag war es in der Gegend Eisenstadt bis Sopron (Ödenburg) eiskalt und offenbar wehte zudem ein heftiger Schneesturm. Samuel Bondi, ein Handelsmann aus Baumgarten, starb auf der Rückreise von Ödenburg nach Eisenstadt.
Bernhard Wachstein merkte in seinem Jahrhundertwerk über den älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt beim Grabstein von Samuel Bondi an:
“Er starb nicht nach dem Lauf der Welt.”
Nach mir gewordenen persönlichen Mitteilungen ist er auf dem Wege nach Ödenburg bei Schneewetter erfroren.
Wachstein B., Die Grabinschriften des Alten Judenfriedhofes in Eisenstadt, Eisenstädter Forschungen, hrsg. von Sándor Wolf, Band I, Wien 1922, 277
Wir wissen nicht, ob Wachstein mehr wusste und es nicht schreiben wollte, oder ob er wirklich nicht mehr wusste als das, was er hier schrieb. Wachstein ist 1868 geboren und konnte sein Wissen nur vom Hörensagen haben.
Ich persönlich glaube, dass er mehr wusste, weil er sonst wohl nicht die Zeile 4 der hebräischen Grabinschrift “Er starb nicht nach dem Lauf der Welt” zitiert hätte. Denn diese Zeile spricht eine zwar subtil formulierte, aber in der Aussage klare Sprache: Dass Samuel Bondi nämlich keinen üblichen Tod gestorben ist.
Aber die hebräische Inschrift wird noch deutlicher. Denn in Zeile 5 heißt es dann, dass
sein letzter Tag, als er starb, bitter war für ihn
und in Zeile 6 geht es, und das halte ich für ganz entscheidend, mit בכל זאת “Trotzdem” weiter!
Trotzdem werden wir über ihn seine Rechtschaffenheit verkünden.
“Trotzdem” macht an dieser Stelle nur dann einen Sinn, wenn vorher etwas Unrühmliches passiert ist, etwas, über das man halt nicht spricht. Also nicht ein üblicher Tod, auch nicht ein gewaltsamer Tod etwa (also dass er überfallen und ermordet worden wäre o.Ä.), sondern viel eher etwas, was selbst verschuldet war und leider zum Tod geführt hat.
In hebräischen Grabinschriften haben wir gelegentlich Sätze und Formulierungen, die die Schuldfrage aufwerfen, die andeuten, dass irgendjemand, sei es die oder der Verstorbene selbst, seien es bei Kindern deren Eltern, Schuld auf sich geladen hat. Schuld, die anklagend formuliert wird und für die man nun Vergebung sucht, Schuld, die wir oft nicht richtig deuten und verstehen können, weil uns Informationen über die familiären Hintergründe fehlen.
Im Falle Samuel Bondi kommen jetzt aber zwei Zeitungsberichte ins Spiel, die Licht ins Dunkle bringen:
Samuel Bondi aus Baumgarten bei Ödenburg, von dem berichtet wurde, dass er seit dem 15. d. M. unter bedenklichen Umständen vermisst wird, ist auf einem aufgeackerten Felde, eine bedeutende Strecke von jener Stelle, wo sein Wagen getroffen wurde, tot, jedoch ohne Merkmale erlittener Gewalttätigkeiten aufgefunden worden. Er war dem Trunke stark ergeben und dürfte in berauschtem Zustande der Kälte erlegen sein.
Wiener Zeitung, Wien, 17. Februar 1861, Seite 4
Der Handelsmann Samuel Bondi, 60 Jahre alt, zu Baumgarten in Ungarn ansässig, wird seit dem 11. dieses Monats unter bedenklichen Umständen vermisst. Derselbe fuhr am 11. dieses Monats nachmittags 4 Uhr auf seinem mit einem Pferde bespannten Wagen von Ödenburg nach Hause, ist jedoch daselbst bisher nicht eingetroffen. Sein Pferd wurde an demselben Tage abends, 8 Uhr, in Baumgarten eingefangen, der Wagen erst am folgenden Tage in der Nähe des Birnwaldes gefunden.
Wiener Zeitung, Wien, 21. Februar 1861, Seite 3
Samuel Bondi, in der Konskriptionsliste von 1836 als “Auswärtiger aus Drassburg” geführt, dürfte zum Zeitpunkt seines Todes, im Jahr 1861, jedenfalls nicht mehr in Drassburg, sondern im nahen Baumgarten gewohnt haben und kommt, wie wir auch in seiner Grabinschrift lesen, aus einer “erhabenen Familie”!
Sein Vater Moses Schick, genannt Bondi ben Berech Schick, gest. 1846 und auch schon in Drassburg wohnhaft, ist ebenfalls am älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt begraben und hat dort einen entsprechend aufwändig gestalteten schönen Grabstein in der ersten Reihe, wo die Prominenten der jüdischen Gemeinde begraben sind.
Seine Grabinschrift bezeichnet Moses Schick-Bondi als einen Nachkommen von Jomtov Lipmann Heller, der in Krakau am berühmten jüdischen REMU-Friedhof begraben ist, nachdem er zwei Jahre in Wien und dann in Prag Rabbiner gewesen war und 1654 in Krakau gestorben ist. Siehe dazu meinen Artikel “Gelehrte, Rabbiner und ein Geizhals“.
Samuel Bondi war also, aus meiner Sicht und unter Berücksichtigung der Zeilen 4-6 der hebräischen Grabinschrift, bei seiner Rückkehr aus Ödenburg im Februar 1861 stark alkoholisiert und merkte in diesem bedauernswerten Zustand die Kälte nicht, die sich seiner bemächtigte und schließlich zum Tod führte. Im Sterbeeintrag lesen wir als Todesursache “Erfrierungstod”, finden aber kein Sterbedatum.
Verständlich aber, warum, abgesehen von ‘de mortuis nil nisi bene’ besonders bei Samuel Bondi “nur” seine Rechtschaffenheit verkündet werden soll in seiner hebräischen Grabinschrift, und seine “Verfehlung”, die leider sogar zu seinem Tode führte, auf wunderbar subtile Weise in der hebräischen Grabinschrift zwar angedeutet, aber natürlich nicht laut hinausposaunt wird.
Am älteren jüdischen Friedhof von Eisenstadt ist Samuel Bondi erst einen Monat später, am 19. März, begraben worden. Warum das Begräbnis so spät war, wissen wir nicht. Wir kennen allerdings auch keinen anderen Verstorbenen oder keine andere Verstorbene, die zwischen Mitte Februar und Mitte März 1861 beerdigt worden wäre. Vielleicht waren Witterungsgründe (gefrorene Erde?) der Grund?
Neben Samuel Bondi sind seine beiden Söhne, sein Bruder und seine Mutter begraben, siehe Samuel Bondi, 15. Februar 1861.