
Schon wieder ein Artikel über eine Mauer, werden sich vielleicht manche Leser:innen denken. Nach der Westmauer bzw. Klagemauer in Eisenstadt, den Grabsteinen und Grabsteinfragmenten an und auf der Mauer in Kobersdorf und den beiden höheren und der langen niederen Mauer am jüdischen Friedhof in Mattersburg geht es aber heute nicht um Jean-Paul Satres gleichnamige Sammlung von Kurzgeschichten, sondern um die Mauer des jüdischen Friedhofes Lackenbach.
Es geht näherhin um die knapp 134 Meter lange nordwestliche Mauer des jüdischen Friedhofes Lackenbach, an deren beiden Enden sich auch die beiden Eingänge in den Friedhof befinden.
Diese Mauer besteht heute aus der ursprünglichen Mauer und einem in den letzten Jahrzehnten dazugekommenen neuen Mauerstück, das auf die alte, niedere und ursprüngliche Mauer gesetzt wurde.

Im vorderen, südwestlichen Bereich der ursprünglichen, niederen Mauer befindet sich eine kleine, unscheinbare Tafel (ca. 32x20cm), die ich auch erst vor einigen Wochen zufällig entdeckte. Die hebräische und aramäische (!) Inschrift dieser Tafel verrät uns das Erbauungsdatum der ursprünglichen niederen Friedhofsmauer. Und zwar mit einer durchaus interessanten Formulierung.

Die hebräische / aramäische Inschrift
[1] Diese Mauer wurde erbaut | חומה זו נבנתה |
[2] im Jahr 629 (= 1869) | בשנת תרכט |
[3] von den Gabbaim des laufenden Jahres. | עי גבאים דהאי שתא |
Anmerkungen
Zeile 1: Vgl. Nehemia 7,1 וַיְהִ֗י כַּאֲשֶׁ֤ר נִבְנְתָה֙ הַחוֹמָ֔ה “Als die Mauer erbaut war…”
Zeile 3: דהאי שתא ist Aramäisch und bedeutet “des laufenden Jahres”, siehe zB babylonischer Talmud, Traktat Bava Kama 113b דְּהַאי שַׁתָּא oder Traktat Pesachim 77a.
Die Gabbaim
Gemeint sind die Gabbaim, die im Jahr 1869 gewählt waren. Ein Gabbai ist eine Hilfskraft in der Synagoge (der Gabbai ruft etwa jene Männer auf, die für die Toralesung vorgesehen sind), ein Rabbinatsassistent oder (früher vor allem) ein Verantwortlicher für die finanziellen Gebarungen der jüdischen Gemeinde. Sie werden meist für ein oder zwei Jahre gewählt und genießen gewöhnlich das uneingeschränkte Vertrauen des Rabbiners, des Gemeindevorstandes und der Gemeinde.
Historisch gesehen wurde der Gabbai mit dem Sammeln von Geldern beauftragt. Das hebräische Wort גבה ist ein Homonym und bedeutet sowohl “erheben” als auch “sammeln”. Überschneidungen der Aufgaben des Gabbai kann es mit denen des Schammes, des eigentlichen Synagogendieners, geben.
Der Gabbai, der Zedakah-Gelder (Gelder für die Wohltätigkeit) sammelte und verteilte, war als גבאי צדקה “Gabbai Tzedakah”, also etwa “Verwalter für die Armenfürsorge” oder einfach “Almosenvorsteher”, bekannt. In vielen Gemeinden gab es die “Herren Almosen-Vorsteher” האלופים גבאים דצדקה[1].
Wir kennen etwa ein Dokument vom 7. April 1806, wo es um die Wählbarkeit der Würdenträger in der jüdischen Gemeinde in Eisenstadt geht. Darin heißt es:
Wer noch kein Amt bekleidet hat, kann nur als Armen- oder Talmudtora-Vorsteher gewählt werden. Eines dieser Ämter befähigt zur Würde des Memune (zu übersetzen etwa mit “Beamter”), diese zu der eines Gabbai-Zedaka, die letztere zum Range eines Beisitzers. Hat man diese Stufen in der angeführten Ordnung durchgemacht, ist man zur Bekleidung der höchsten Würde, der eines Rosch ha-Kahal (Vorsteher der Gemeinde) befähigt.[2]
Unterschrieben wird das Dokument dann unter anderem auch sowohl vom “ersten Gabbai” גבאי ראשון, vom “zweiten Gabbai” גבאי שני als etwa auch vom Gabbai des Talmud-Tora-Vereines התו’ הרבני כמהר”ר יוסל פ”ב גבאי דת”ת “der Tora(gelehrte), u(nser) L(ehrer) u(nd Meister), H(err) Josel P(ress)b(urg), Gabbai d(es) T(almud)-T(oravereines).[3]
Die Gabbaim hatten verantwortungsvolle Aufgaben wie etwa sich um die in der Gemeinde ankommenden Gäste entsprechend zu kümmern.
So lesen wir im Jänner 1822 in den “Vorschlägen im Sinne des am 6. Jänner d. J. gefassten Beschlusses…” in Punkt 7 und 8:
Der גבאי (Almosenvorsteher), an welchen das פרנס החדש (Monatsamt) ist, Bolletten an die בחורים [“Jünglinge, die zum Studium kommen”] verteilen und das Abfertigen der אורחים [“Gäste”] zu versehen, soll höchst beflissen sein, das laut Beilag klassifizierte Wochengeld מיחידי סגולה דקהתינו wöchentlich oder monatlich unablässlich einholen zu lassen, von welcher Kassa die Abfertigung der אורחים [“Gäste”] auf folgende Weise und Ordnung vorgenommen werden soll, als
8. den ankommenden אורח [“Gast”], welcher um sein Abfertigungsgeld zum גבאי צדקה [“Gabbai Zedaka”, “Almosenvorsteher”] geht, hat der גבאי [“Gabbai”] hauptsichtlich um einen מאקרו”ט (vom Vorstande) ausgestellten gedruckten Aufenthaltsschein ihm anzufragen, welchen der אורח [“Gast”] unumgänglich gleich bei seiner Ankunft mittels Vorweisung seines Passes אצל החזן ונאמן דקהלתינו (beim Vorbeter und Gemeindebeglaubigten) dergestalt einzulösen hat……[4]
Der Grund, warum ich oben bewusst und mehrmals von der ursprünglichen “niederen” Mauer spreche, ist, dass diese niedere Mauer eben einen ganz konkreten Grund hatte: Die niedere Mauer erlaubte nämlich den Kohanim, den Priestern, bei einem Begräbnis von Verwandten teilzunehmen, ohne den Friedhof zu betreten. Das Betreten war ihnen nur erlaubt beim Begräbnis der unmittelbar engsten Verwandten wie Eltern, Kinder, Ehepartner und Geschwister.
Siehe dazu meinen Artikel “Der Herr segne und behüte dich” über das Symbol der “segnenden Hände”, dem Symbol der Kohanim.
In Lackenbach ist besonders deutlich zu sehen, dass viele Gräber von Kohanim in der Nähe der Friedhofsmauer angelegt wurden, damit den Kohanim eben die Anwesenheit bei einem Begräbnis eines Verwandten ermöglicht wird, ohne dass sie den Friedhof betreten müssen und sich dabei verunreinigen würden. Und diese Teilnahme ist natürlich nur möglich, wenn die Mauer nicht zu hoch ist … wie sie es heute ist.

Zu sehen ist das Problem der hohen Mauer besonders auch bei jenem Grab, das alljährlich das Ziel vieler orthodoxer Besucher:innen aus aller Welt am jüdischen Friedhof Lackenbach ist: das Grab des großen Rabbiners Schalom Ullmann, genannt “he-Charif”, “der Scharfsinnige”, der von 1802 bis zu seinem Tod am 6. März 1825 in Lackenbach Rabbiner war (und dessen Sohn Abraham sowie sein Enkel David ebenfalls in Lackenbach das Rabbineramt innehatten).
Sein Grab steht nur 70 Centimeter von der Mauer entfernt, mit der hebräischen Inschrift zur Mauer (so wie wir es auch erwarten dürfen, weil er Richtung Osten begraben wurde, siehe etwa meinen Artikel Über den Grabstein I). Heute, wo die Mauer über 1.55 Meter hoch ist, können Besucher, die Kohanim sind, sein Grab so wie früher nicht besuchen, es aber auch leider von außen nicht mehr sehen.
Die ursprüngliche Mauer aus dem Jahr 1869 ist auf Höhe der Kohanim-Gräber 80 Centimeter, auf Höhe des Ullmann-Grabes etwa 105 Centimeter hoch. Dazwischen hat sie meist eine Höhe von etwa 95 Centimeter. Die neue Mauer hat eine Höhe zwischen 55 und 60 Centimeter.
[1] Wachstein Bernhard, Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Eisenstadt und den Siebengemeinden, Eisenstädter Forschungen, Wien und Leipzig 1926, 206, Punkt 7. [Zurück zum Text (1)]
[2] Wachstein Bernhard, Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Eisenstadt und den Siebengemeinden, Eisenstädter Forschungen, Wien und Leipzig 1926, 188f. [Zurück zum Text (2)]
[3] Wachstein Bernhard, Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Eisenstadt und den Siebengemeinden, Eisenstädter Forschungen, Wien und Leipzig 1926, 188f. [Zurück zum Text (3)]
[4] Wachstein Bernhard, Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Eisenstadt und den Siebengemeinden, Eisenstädter Forschungen, Wien und Leipzig 1926, 200, Punkt 7 und 8. [Zurück zum Text (4)]