Mattersburg: Neue Hypothesen

Mattersburg: Neue Hypothesen

Am 22. Jänner 2025 durfte ich den ersten Jahrgang der Berufsschule Mattersburg, Zweig Installationstechnik, am jüdischen Friedhof Mattersburg begleiten. Und ich nehme es vorweg: es waren ganz wunderbare 100 Minuten in klirrender Kälte… danke den Lehrerinnen und Lehrern und ganz besonders danke an die Schüler (nicht gegendert, es waren nur männliche Schüler), die viele Fragen stellten und super mitarbeiteten.

Der jüdische Friedhof in Mattersburg: Auf den ersten Blick präsentiert er sich ein wenig trostlos, vor allem weil wir keine oder so gut wie keine “originalen” Grabsteine sehen, sieht man genauer hin, birgt der Friedhof aber manch spannende Geschichten und viele offene Fragen, wahrscheinlich sogar mehr denn eh und je.

Mattersburg, das ehemalige Mattersdorf: Es war mein erster jüdischer Friedhof, den ich 2010 begann online zu stellen.
Hunderte Grabsteine aus etwa 250 Jahren wurden von den Nazis auf tausende Stücke zerschlagen, ein Teil von diesen Fragmenten dann nach 1945 in mehreren Mauern am Friedhof eingemauert (eine sehr gute Lösung!, wie ich meine), einige wenige noch vorhandene vollständige Grabsteine ebenfalls in zwei nach 1945 aufgestellten “Mauern” (im Volksmund “Klagemauer”) eingemauert. So konnte ich in einer dieser Mauern zum Beispiel 2019 ein Fragment des Grabsteines von Josef Chajim Leitner, gestorben 1913, finden.

Die Geschichte ist bekannt: Der jüdische Religionsschulinspektor Isidor Öhler, der in Wien verbleiben durfte, wurde von der GESTAPO 1942/43 beauftragt, alle Grabsteine zu fotografieren und die Inschriften abzuschreiben. Jahrzehnte später gelangten 229 Fotos und Abschriften in den Besitz des jüdischen Museums in Eisenstadt. 2010 stellte ich alle Fotos online, für viele Menschen, die ihre Vorfahren in Mattersdorf/-burg hatten und heute in den USA, in Israel oder Südamerika leben, waren das nach Jahrzehnten (nach ihrer Vertreibung) die ersten Bilder von Grabsteinen ihrer Verwandten. Genaueres in meinem Einleitungsartikel.

Zurück zu den Schülern: Selbstverständlich, und eigentlich hätte ich es erwarten müssen, war die künstliche Intelligenz bei den Schülern das große Thema. Als ich begann eine Inschrift zu übersetzen, waren die Schüler etwa gleichschnell, indem sie die Inschrift fotografierten und ChatGPT dazu befragten. Teils waren die Antworten richtig, teils nicht und teils fehlten überhaupt gleich ganze Zeilen in der Übersetzung der Online-Tools. Zum Beispiel wurde die Zeile mit dem Herkunftsort Neudörfl von Herrn Mose Katz von ChatGPT gar nicht erkannt und einfach verschwiegen. ChatGPT schaffte es auch nicht, die Zeile mit dem Sterbedatum korrekt zu lesen bzw. zu übersetzen.

Viele der noch vorhandenen in den beiden Mauern eingemauerten Grabsteine sind noch nicht digital erfasst. Ich plane das in Bälde nachzuholen.
Nachgeholt muss werden, dass sich ganz oben, in der südlichsten Ecke des Friedhofes, eine zweite, mehrfach aufgeteilte Mauer befindet, die bisher in der Literatur nicht erwähnt wurde. Ich gestehe, diese Mauer auch noch nie registriert zu haben, was mich außerordentlich wundert. Möglich, dass sie völlig verwachsen war und im Zuge der derzeit stattfindenden Maurerarbeiten freigelegt wurde?

Extrem spannend aber die Frage: Wie viele Fragmente befinden sich eigentlich insgesamt in den niederen kleinen Mauern, die Richtung Süden hinauf laufen und in den beiden hohen Mauern, im oberen Teil des Friedhofes und im südlichsten Eck ganz oben? Und vor allem: Wie viele “ganze” Grabsteine ließen sich daraus zusammenstellen?

Mit anderen Worten und als ganz vorsichtige Hypothese formuliert: Vielleicht muss die Geschichte, die nach 1945 immer wieder erzählt wurde und wird, dass die Grabsteine am Bahndamm verbaut oder aber alternativ ins Bachbett der Wulka geworfen wurden, neu geschrieben werden, weil noch hunderte Grabsteine (grob geschätzt zwischen 500 und 700) sich eigentlich am Friedhof befinden. Wenn auch in viele Fragmente zerbrochen und natürlich auch nicht am ursprünglichen Standort. Eine schier unmöglich zu bewerkstelligende Puzzlearbeit kündigt sich an. Apropos KI: Da könnte die künstliche Intelligenz tatsächlich nützlich werden eines Tages ;-)

 

Angemerkt sei, dass ich zeitnah, nämlich am 22. Jänner 2025, einen Facebook- und Instagrameintrag mit dem Bericht über diesen Tag am jüdischen Friedhof Mattersburg machte. Ich halte es aber für gut, mittlerweile vielleicht sogar für notwendig, den Bericht auch hier im Blog zu bringen, wo nicht nur alle Nutzer weltweit ohne Zugangsregeln und ohne Preisgabe von persönlichen Daten zugreifen können, sondern auf dem auch allen Inhalten offene und anerkannte Standards und Protokolle zugrunde liegen.

 

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