Über ein zu lange unbeachtetes Juwel des ehemaligen jüdischen Viertels von Eisenstadt
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern ein fröhliches Chanukkafest ‒
Happy Chanukka ‒ חג אורים שמח, ein frohes Weihnachtsfest ‒ Merry Christmas ‒ und einen guten Start ins Neue Jahr!
Knapp 40 Jahre habe ich in Eisenstadt gearbeitet. Sozusagen im Herz des ehemaligen jüdischen Viertels ‒ und bin in diesen vier Jahrzehnten mit Sicherheit einige tausend Mal von der mehr als 200 Jahre lang (bis 1938) selbständigen jüdischen Gemeinde “Ortsteil Unterberg-Eisenstadt” und heutigen Katastralgemeinde Unterberg-Eisenstadt hinunter in die “Stadt” Eisenstadt spaziert, am Schloss vorbei in die Fußgängerzone…
Jedes Mal, beim Weggehen und beim Zurückkommen, kam ich natürlich am unteren östlichen Ausläufer des ehemaligen jüdischen Viertels, also an dem dem Schloss Esterházy im Westen gegenüberliegenden Haus vorbei. Und habe, ich kann es heute kaum fassen, 40 Jahre lang nicht genau auf die mittlere Säule dieses besagten Hauses gesehen, geschweige denn, mich näher mit ihr beschäftigt.
Vor einigen Monaten fiel sie mir auf:
Diese Säule, die durchaus als Stadtchronik bezeichnet werden darf, und auf der sich nicht nur die Erwähnung des jüdischen Viertels, auf der Säule “Getto” genannt, mit der Jahreszahl 1671, findet, sondern auch zwei hebräische und auf Hebräisch geschriebene Wörter. Vor allem um diese beiden Zeilen geht es in diesem Artikel.
Zunächst aber der Reihe nach, was sehen bzw. lesen wir sonst noch auf der Säule?
Beginnen wir der Vollständigkeit chronologisch, also ganz unten auf der Säule:
160
RÖM. WACHTURM
mit einem eine Lanze haltenden römischen Soldaten.
Eindeutig eine Anspielung auf die Tatsache, dass das Burgenland damals zu großen Teilen zur römischen Provinz Pannonien gehörte. Die beiden wichtigsten Städte waren Savaria (heute Szombathely ‒ dt. Steinamanger ‒, Ungarn), das gesamte heutige Südburgenland, und das etwas später entstandene Scarabantia (an der Stelle des heutigen Sopron ‒ dt. Ödenburg ‒, Ungarn), zu dessen Stadtbezirk die heutigen Bezirke Oberpullendorf, Mattersburg und Eisenstadt gehörten.[1]
1400
KANIZSAI
mit der Darstellung des Familienwappens der Kanizsay
Seit 1371 gehörte Eisenstadt den Kanizsay, einer ungarischen Adelsfamilie aus dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit. In diesem Jahr erhielt die Familie auch das Mauerrecht, ließ die Mauern der Stadt befestigen und baute innerhalb der Mauern eine Wasserburg. Aus dieser Zeit stammt auch der Name “Eysenstat” (stark, eisern, daher Eisenstadt).[2]
1655
MAUTHAUS ZUM 30.
mit einem Symbol daneben, das ich nicht erklären kann. Vielleicht eine Fahne, passend zu einem Mauthaus?
In jedem Fall ist damit aber nicht das eigentliche Mauthaus gemeint, das ab 1767 in der Ruster Straße, gegenüber den ehemaligen Stallungen der Esterházys gelegen ist, sondern die “Filialdreißigstation” die sich nach 1647 bis nach 1726 etwa gegenüber der heutigen Spitalsapotheke der Barmherzigen Brüder in Eisenstadt, auf der anderen Straßenseite der Esterházystraße befunden hat.[3]
Mit “Filialdreißigstation”, die eigentlich “Filialdreißiger-Station” heißen sollte, ist das gemeint, was wir heute landläufig unter “Road Pricing” verstehen.
Der Dreißigstzoll war um die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit und auch in den folgenden Jahrzehnten ein Wertzoll, d.h. er wurde aufgrund des Wertes der ein- oder ausgeführten Ware bemessen. Dabei wurde im Allgemeinen nicht ein Dreißigstel, sondern ein Zwanzigstel des Warenwertes als Auslandszoll festgelegt.
Die Tatsache, dass der Auslandszoll als Wertzoll eingehoben wurde, bedeutet, dass für die einzelnen Warengattungen je nach ihrem Wert bestimmte Sätze nach dem jeweils gültigen Zolltarif eingehoben wurden.[4]
Die nächsten vier Zeilen sind die für uns entscheidenden vier Zeilen, weil sie das ehemalige jüdische Viertel von Eisenstadt betreffen.
Zunächst ist festzuhalten, dass auf dieser Säule im Gegensatz zu allen anderen erwähnten historischen Meilensteinen der Stadt das jüdische Viertel gleich zweimal Erwähnung findet:
1671
GETTO
Obwohl man dieses Wort als Bezeichnung für das jüdische Viertel immer wieder in der Literatur findet, wird es deshalb nicht richtiger. “Ghetto” hat immer die Konnotation einer zwangsweisen Besiedlung. Die korrekte Bezeichnung für das ehemalige jüdische Viertel von Eisenstadt ist “jüdisches Viertel” oder auch “Judengasse”. Aber das ist eine andere Geschichte, vielleicht einmal ausführlicher hier im Blog.
Die Jahreszahl 1671 ist, so zeigen auch die neuesten Forschungen[5], nicht richtig. Denn erst am 24. April dieses Jahres kam es im Zuge der Ausweisung der Juden aus Ungarn auch zur Vertreibung der Juden aus Eisenstadt. Erst einige Jahre später durften sie sich wieder ansiedeln. So heißt es in einem Urbar von 1675, also vier Jahre später:
In dem zum Schloss gehörigen Mayrhoff seint vor die Juden 12 Heyßl, welche sie bewohnen, zugericht.[6]
Der älteste jüdische Grabstein am älteren jüdischen Friedhof von Eisenstadt datiert aus dem Jahr 1679: Naftali Hirz ben Abraham ha-Levi Kamen (Coma), 23. Tammus 439 (= Montag, 03. Juli 1679).
Allerdings, das gehört korrekterweise angemerkt, herrschte sehr lange Zeit die Meinung vor, dass eine neuerliche Ansiedlung der Juden schon einige Monate nach der Vertreibung stattfinden konnte, also noch im Jahr 1671:
So ereilte auch die Juden Eisenstadts das Verhängnis, von ihrer heimatlichen Scholle weggehen zu müssen. Obwohl seit 24 Jahren wieder zu Ungarn gehörend, war Eisenstadt doch wie bereits erwähnt, gleich den Gemeinden Lakenbach, Mattersdorf in die Vertreibung der Juden aus Niederösterreich einbezogen, denn auch für Ungarn galt der Ausweisbefehl und am 24. April mußten die Juden ihre Wohnstätten verlassen, konnten aber, angeblich schon am 20. August des gleichen Jahres, wieder zurückkehren.[7]
Daher gibt die Jahreszahl 1671 auf der Säule nur die damals herrschende wissenschaftliche Meinung wieder.
Darüber, unter der Jahreszahl
1700
zwei Zeilen, die erste in Hebräisch mit hebräischen Buchstaben, in der zweiten die deutsche Transkription.
Um diese beiden Zeilen geht es in diesem Artikel:
Die Jahreszahl
Die Jahreszahl 1700 scheint an die Ende des 17. Jahrhunderts stark prosperierende und sich langsam konsolidierende jüdische Gemeinde von Eisenstadt zu erinnern. Ende des Jahrhunderts wurde die erste kleine Synagoge im Viertel errichtet, Samson Wertheimer wurde kurz vor dem Jahr 1700 zum ungarischen Landesrabbiner ernannt und das sogenannte Wertheimerhaus, in dem ich fast 40 Jahre arbeiten durfte, wurde zwischen 1694 und 1719 errichtet und ist zur Zeit seiner Erbauung immerhin nach dem Schloss Esterházy der größte und bedeutendste Profanbau Eisenstadts. Das Palais orientiert sich, so Architekt Klaus Jürgen Bauer, am absoluten Idealbild aller Architekturen jener Zeit, dem Palazzo Farnese von Michelangelo in Rom.[8]
Die hebräische Zeile
Völlig klar ist, dass der hebräische Text wie folgt aussehen sollte:
הכותל המערבי, Aussprache: hakotel hama’aravi, Deutsch: “Die Westmauer”.
Gemeint ist die Westmauer oder genauer ein Teil der Westmauer des Herodianischen Tempels in Jerusalem, der allgemein auch unter dem Namen “Klagemauer” bekannt ist. Hebräisch werden diese beiden Wörter immer mit dem Artikel geschrieben, also “ha-kotel” “die Mauer” und “ha-ma’aravi” “die westliche”, oder aber umgangssprachlich schlicht כותל “kotel” (Mauer), dann aber ohne Artikel und ohne “westlich”.
Auf der Säule ist insbesondere der dritte Buchstabe (wir lesen von rechts nach links) des ersten Wortes “kotel” nicht korrekt, auch bei bestem Willen ist der Buchstabe Taw ת nicht zu erkennen. Beim zweiten Wort fehlt der letzte Buchstabe, das Jod י, das das Attribut kennzeichnet, also “westlich”. Der Artikel “ha” ה fehlt bei beiden Wörtern jeweils am Wortanfang.
Die deutsche Transkription
Die deutsche Transkription in der zweiten Zeile lässt, ich möchte sagen konsequenterweise, den Artikel vermissen, also “kotel marawi” (wie auch im hebräischen Text) statt “ha-kotel ha-ma’aravi”. Dass der Apostroph, der den Stimmabsatz zwischen den beiden “a” andeutet, nicht gesetzt wird, ist aber eher Jammern auf hohem Niveau. Ob wir den hebräischen Buchstaben “Bet” ב im Deutschen mit “v” oder mit “w” umschreiben, ist auch nur eine Frage der Konventionen.
Summa summarum: Der Inhalt ist völlig klar, die kleinen Ungenauigkeiten im hebräischen Text und in der Transkription sind vernachlässigbar.
Das Rätsel
Wirklich rätselhaft ist das aber vor allem deshalb, weil dieses Haus mit dieser Säule nicht die westliche Begrenzung des ehemaligen jüdischen Viertels darstellt, sondern die östliche. “Westmauer” kann, so gesehen, an diesem Haus nicht stimmen. Verstehen wir aber “ha-kotel ha-ma’aravi” schlicht als “Klagemauer”, blenden die eigentliche wörtliche Bedeutung “Westmauer” aus und assoziieren die Klagemauer mit Jerusalem und Judentum, wird das “kotel ma’aravi” auf der Säule vielleicht ein wenig verständlicher?
Damit kommen wir zum letzten und auf der Säule obersten chronologischen Eintrag:
1960
J. u. H. TISCHLER
Josef und Hildegard Tischler, geb. Schwarz, erwarben zu je einer Hälfte mit Kaufvertrag vom 7. April 1955 dieses Haus. Der Kaufvertrag wurde über den Rechtsanwalt der Esterházy Betriebe abgewickelt. Es sollte aber noch fast 10 Jahre dauern, bis die Familie in das Haus einziehen konnte, Josef Tischler konnte glücklicherweise sehr viel selbst bewerkstelligen. 1960 liegt also genau genommen zwischen Kauf- und Einzugsdatum.
Es handelt sich um das Haus Parzelle Nr. 202, E. Z. 113, Haus Nr. 141, 72m2. Die jüdischen Vorbesitzer waren Richard (Benjamin) Schneider und Franziska (Fani), geb. Flaschner, die mit Kaufvertrag vom 9. März 1915 grundbürgerliche Eigentümer der Liegenschaft wurden. Sie waren die Eltern des letzten jüdischen Bürgermeisters der Großgemeinde Unterberg-Eisenstadt, Wilhelm Schneider, der mit seiner Frau Elisabeth ebenfalls am jüngeren jüdischen Friedhof in Eisenstadt begraben wurde.
Wer? – WANN? – WARUM?
Das Haus hat insgesamt 5 Säulen, je zwei Säulen links und rechts und eine in der Mitte.
Die Säule in der Mitte zeigt die Stadtchronologie.
Josef Tischler hat den bekannten und am 31. Mai 2019 verstorbenen Eisenstädter Künstler Edi Schenk[9], der seit 1958 an der Pädagogischen Akademie in Eisenstadt unterrichtete, ca. 1975 beauftragt, diese Stadtchronik zu erstellen.
Ich finde sowohl die Idee von Herrn Tischler als auch die Ausführung von Herrn Schenk für grandios, den beiden Herrn kann man nicht genug danken!
Herr Josef Tischler war gut vernetzt. Die historischen “bürgerlichen” Meilensteine Eisenstadts konnte er mit leitenden Beamten der Landesregierung absprechen, die beiden Einträge, die die jüdische Geschichte Eisenstadts betreffen, insbesondere natürlich den hebräischen Text samt Transkription, sind weitgehend sehr wahrscheinlich seinem Nachbarn, Herrn Moritz Gabriel, einem der wenigen Rückkehrer nach Eisenstadt, zu verdanken.
Besonders herzlich möchte ich mich bei der Enkelin von Joseph und Hildegard Tischler, Frau Ulli Lorger, bedanken, die mir viel von ihrer Kindheit in diesem Haus, von ihren Großeltern, dem Maler Edi Schenk und vor allem vom Entstehen dieser Säule erzählt hat.[10]
So erinnert sich Frau Lorger etwa noch, dass Herr Schenk die Stadtchronik nicht vor Ort und am Haus direkt, sondern wohl in seinem Atelier gemacht und die fertige Platte danach auf der bereits vorhandenen, aber noch nicht beschrifteten mittleren Säule angebracht hat.
Ich wünsche mir sehr, dass diese Säule mit der Eisenstädter Stadtchronik und mit gleich zwei Einträgen zum ehemaligen jüdischen Viertel von Eisenstadt hinkünftig mehr Beachtung findet, bei Stadtführungen, Rundgängen durch das ehemalige jüdische Viertel und bei Spaziergängen durch “die kleinste Großstadt der Welt”[11].
Fußnoten
[1] Römerstädte. [Zurück zum Text (1)]
[2] Eisenstadt (Wikipedia) und besonders auch: [2] Eisenstadt unter den Kanizsai (Atlas Burgenland). [Zurück zum Text (2)]
[3] Wachstumsphasenkarte mit Legende. [Zurück zum Text (3)]
[4] Felix Tobler, Zur Organistation und zum Alltag der Dreissigstämter des burgenländisch-westungarischen Raumes am Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts, in: Diesseits und Jenseits der Leitha. Grenzen und Grenzräume im pannonischen Raum, Tagungsband der 21. Schlaininger Gespräche 17. bis 20. September 2001 (Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland Band 156), hrsg. von Rudolf Kropf, 59ff: hier online abrufbar (PDF).
Zum “Dreißigstzoll” siehe besonders auch Harald Prickler, Die österreichisch-steirischen Grenzstädte und der burgenändisch-westungarische Raum. Aspekte zur Stadt-Land-Beziehung über die Landesgrenze hinweg, in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark Jahrgang 96 (2005), 211ff: hier online abrufbar (PDF). [Zurück zum Text (4)]
[5] Etwa Felix Tobler, Die Fürsten Esterházy als Schutzherren der jüdischen Sieben-Gemeinden 1612-1848. Esterhazy Privatstiftung (Hg), Mitteilungen aus der Sammlung Privatstiftung Esterhazy, Bd. 12, Jg. 2021, Eisenstadt 2021. [Zurück zum Text (5)]
[6] Vielmetti Nikolaus, Die Judengasse von Eisenstadt und das Wertheimerhaus, in: Das Österreichische Jüdische Museum, hrsg. vom Österreichischen Jüdischen Museum, 1988, 55. [Zurück zum Text (6)]
[7] Markbreiter Moritz, Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Eisenstadt, Wien 1908, 21. [Zurück zum Text (7)]
[8] Artikel “Klaus-Jürgen Bauer, Das Wertheimerhaus, 25. November 2012 (online auf der “Koscheren Melange” bis Juni 2023). Der Artikel ist nicht mehr online, er liegt mir aber als Textdatei vor. [Zurück zum Text (8)]
[9] “Schenk Edi” (Kulturgericht), siehe auch die Meldung über seinen Tod auf burgenland.orf.at: “Maler Edgar Schenk gestorben”. [Zurück zum Text (9)]
[10] Vielen Dank auch an Herrn Hans Skarits, der mir den Kontakt zu Frau Lorger vermittelt hat. [Zurück zum Text (10)]
[11] “Dachmarke Eisenstadt [Zurück zum Text (11)]
danke für diesen wunderbaren und akribisch recherchierten Artikel über das alte Eisenstadt. großartige Historie. da möchte man auf alle Fälle das wertvolle Städtchen besuchen. mein Wunsch dazu auch, dass dieses besondere wichtige Geschichtswissen auch Schulstoff wird , alles liebe