Start des Projekts “Aufarbeitung des jüdischen Friedhofs Mattersburg”
Wir wissen nicht, wie viele Grabsteine sich vor 1945 auf dem jüdischen Friedhof in Mattersburg befanden, wir wissen auch nicht, was mit ihnen geschah. Es gibt verschiedenste Vermutungen und Spekulationen, wahrscheinlich wurden sie für den Bau von Mauern, Straßen und Häusern verwendet.
Heute finden sich auf dem jüdischen Friedhof von Mattersburg nur einige wenige alte Grabsteine bzw. Grabsteinfragmente, die in eine Mauer (beidseitig) eingesetzt wurden sowie 150 von der Chevra Kadischa gespendete (namenlose) Grabsteine (oder richtiger “Grabsteinattrappen”).
Und doch, wir kennen mehr als 300 (Update 26. 12. 2014:) 229 Namen, Todesdaten und Grabinschriften von jüdischen Toten, die auf dem Friedhof begraben sind. Denn durch einen glücklichen Zufall ist das Österreichische Jüdische Museum im Besitz von Fotos und Abschriften, die der Religionsschulinspektor für mosaischen Glauben, Isidor Öhler, im Auftrag der Gestapo vor 1945 für das Reichssippenamt anfertigte – oder wohl korrekter: anfertigen musste.
Update 26. 12. 2014: Dieser “glückliche Zufall” war, dass Univ.-Prof. DDr. Kurt Schubert in den 1970er-Jahren (vielleicht auch schon früher) auf einer seiner Schiffsreisen nach Israel einem Mann (ein Verwandter von Isidor Öhler?) begegnete, der ihn erkannte und ihm diese Sammlung an Fotos übergab für das jüdische Museum in Eisenstadt. Prof. Schubert war bekanntlich der Gründer des Museums. Weder Prof. Schubert noch wir wussten / wissen (es ließ sich nie eruieren!) wieviele Grabsteine damals tatsächlich fotografiert und wieviele Inschriften von Öhler abgeschrieben wurden. Die nun online publizierten sind jedenfalls (leider) alle, die in unseren Besitz gelangten!
Wir halten es aber durchaus für möglich, dass es noch weitere Fotos und Abschriften von Grabsteinen geben könnte und wären sehr glücklich, wenn jene Personen, die diese so wertvollen Originaldokumente besitzen, sie der Öffentlichkeit zugänglich machen!
Isidor Öhler
Isidor Öhler wurde am 09. 10. 1878 in Topolcsany (Slovakei/Ungarn) geboren und verstarb am 02. 04. 1968 in Wien. Verheiratet war er seit 1938 mit Alice, geb. Weiner (1896 – 1987). Bereits 1901 wurde Öhler als Religionslehrer in den Schuldienst der Israelitischen Kultusgemeinde Wien berufen. Im Jahre 1910 wurde er zum Schulinspektor für den Religionsunterricht an Volks- und Bürgerschulen bestellt.
Im Nachruf von Dr. Ernst Feldsberg heißt es:
Mit Reg.-Rat Oehler ist einer jener letzten von dieser Welt gegangen, die die Geschichte der großen Wiener jüdischen Gemeinde seit 1901, also durch fast 60 Jahre, miterlebt haben, ein Mann, der ein lebendes Nachschlagewerk dieser klassischen Zeit der Wiener Kultusgemeinde war.
…
Seit dem Jahre 1943 versah Reg.-Rat Oehler die rabbinischen Funktionen am Seitenstettentempel und, nachdem auch die Kantoren des Seitenstettentempels den Weg ins KZ Theresienstadt angetreten hatten, war Reg.-Rat Oehler auch der Vorbeter in diesem Gotteshaus. Als treuer Verehrer des großen Kantors Salomon Sulzer sang er jeden Freitagabend und an jedem Sabbat gemeinsam mit den wenigen Juden, die zurückgeblieben waren, Sulzersche Melodien, die auch in der schwersten Zeit der Verfolgung im Seitenstettentempel nicht verstummt waren.
Nach der Befreiung im Jahre 1945 wurde Oehler mit der Wiedereinrichtung des Religionsunterrichts beauftragt … Im Jahre 1948 trat er in den wohlverdienten Ruhestand …
Die Gemeinde 124 (1968), S. 19
Das Projekt
Als wir vor einigen Jahren in den Besitz der Fotos und Zettel mit den Abschriften gelangten, waren diese vollkommen durcheinander. Ein Päckchen mit den Fotos und ein anderes Päckchen mit den Zetteln. Fotos und Abschriften mussten daher erst geordnet und zusammengeführt werden. Bei dieser Arbeit fielen uns zu unserer großen Überraschung übermäßig viele (kleinere) Fehler in den Abschriften auf. Wenn möglich (die Fotos sind oft sehr schwer lesbar), versuchten wir diese Fehler auszubessern. Nur, das Problem sind nicht so sehr die Fehler an sich, sondern dass wir selbstverständlich davon ausgehen dürfen, dass Isidor Öhler sehr wohl die entsprechenden Kenntnisse hatte, um die vorliegenden Abschriften fehlerlos anzufertigen! Hat er die Fehler absichtlich eingebracht, um vielleicht nicht allzuviele Informationen preisgeben zu müssen?
Es muss leider offen bleiben, ob Öhler die Abschriften auf Grundlage der Fotos oder vor Ort, also am Friedhof anfertigte. Oft sieht es nach Fotoarbeit, oft nach Friedhofsarbeit aus. So manche Inschrift, die am Foto nicht oder kaum identifizierbar ist, hätte sich am Friedhof gut lesen lassen. Vielleicht gilt aber auch hier, dass Öhler aus guten Gründen bewusst oberflächlich, oft auffällig oberflächlich arbeitete? Denn es bleiben viele Ungereimtheiten in den Transkriptionen Öhlers. Wir wissen die Gründe nicht, Faktum ist aber, dass die Abschriften einen Arbeitsstil widerspiegeln von jemandem, der ohne große Mühe nur schnell etwas fertigstellen wollte/musste und dem ganz offensichtlich der oder die Auftraggeber (aus naheliegenden Gründen) nicht wichtig war(en).
Der jüdische Friedhof in Mattersdorf – wie der Ort bis 1925 hieß; Ansichtskarte um 1910
- Wir werden ab sofort schrittweise alle von Isidor Öhler angefertigten Fotos und Abschriften hier im Blog online stellen und hoffen, bis Mai 2011 die Arbeit abschließen zu können.
- Die Inschriften werden in dieser (ersten) Phase nicht bearbeitet oder übersetzt, wir wollen Öhlers Fotos und Abschriften möglichst rasch der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Außerdem gehen wir davon aus, dass die meisten Interessierten die Abschriften Öhlers und gegebenenfalls auch die Grabinschriften selbst auf den Fotos lesen (und übersetzen) können. Anmerkungen werden nur gemacht, wenn die eigene Lesung von Namen oder Sterbedatum von jener Öhlers abweicht.
- Wir stellen die Mattersburger Grabsteinfotos und –abschriften bewusst hier im Blog online, um Interessierten und/oder Angehörigen Kommentare zu ermöglichen. Im Idealfall können dadurch fehlende – insbesondere auch biografische – Daten schrittweise ergänzt werden.
- Alle Beiträge werden unter der Kategorie “Friedhof Mattersburg” archiviert.
- Eine eigene Personenregister, nur für die Beiträge des Mattersburger Friedhofs, ermöglicht eine schnelle Übersicht über alle Namen und Sterbedaten.
- Die Fotos und Abschriften werden zunächst in zufälliger Reihenfolge online gestellt, da noch immer einige “Problemfälle” eine korrekte Zuordnung erschweren. Zum Schluss werden selbstverständlich Register – nach Namen
und Sterbedatengeordnet – angelegt. - Schließlich ist noch zu klären, ob Grabsteine, die mit Foto und Abschrift vorliegen (wir also hier online stellen) mit in die Mauer am Friedhof eingesetzten Grabsteinen oder Grabsteinfragmenten korrespondieren.
Bei diesem Projekt, dessen Entwicklung Sie ab heute Schritt für Schritt online mitverfolgen können, geht es um mehr, als nur darum, einige Namen online zu stellen. Mit der “Entanonymisierung” des jüdischen Friedhofes Mattersburg soll nicht nur für die Stadt Mattersburg, sondern für das gesamte Burgenland wichtige Erinnerungsarbeit geleistet werden. Die Fotos und Abschriften Öhlers sind heute die einzigen Zeugen des großen jüdischen Friedhofes einer weltberühmten jüdischen Gemeinde.
Am jüdischen Friedhof Mattersburg “muss” nicht mehr gerodet, es müssen keine jüdischen Grabsteine renoviert werden (siehe Beitrag “Am jüdischen Friedhof II”). Ich würde mir aber wünschen, dass die Namen der Toten nach Abschluss unserer Arbeit nicht nur hier in der Online-Datenbank, sondern auch (z.B. auf einer Gedenktafel) am jüdischen Friedhof vor Ort zu finden sind.
Zur Datenbank “Jüdischer Friedhof Mattersburg” (work in progress) … (die ersten 10 Grabsteine sind online)
English Summary:
Only a few fragments of the former gravestones of the Jewish cemetery in Mattersburg could be preserved, they are embedded in a wall and can today be visited in Mattersburg. It is not clear how many gravestones existed on the cemetery before 1945, neither what happened to them. Nevertheless the Austrian Jewish Museum holds a rich source of information on the former cemetery. Luckily, it came in possession of more than 300 photographs and transcriptions of the epitaphs made by Isidor Öhler (the superintendent of schools for religious education) on the authority of the Gestapo in the beginning of 1945. Those photographs and transcriptions will be published online as blog postings bit by bit.
Update 12. Mai 2010: Yitzchok Stroh and Carole G. Vogel have been reconstructing the genealogy of the Jewish community of Mattersdorf from 1698 – 1939!
Update 01. Juli 2010: Seit heute gibt es die (auf shtetlinks.jewishgen.org) gelaunchte Website zu Mattersdorf.
Der Blogbeitrag von Frau Lehner hat mich zu diesem spannenden Blogbeitrag geführt. Was für ein Glück, dass dieses kostbare Foto- und Notizmaterial, erstellt von Isidor Öhler, in die Hände des ojm gelangt sind und zumindest 229 Namen, Todesdaten und Grabinschriften von jüdischen Toten, die auf dem Friedhof begraben waren, dokumentiert sind.
Die Geschichte des jüdischen Friedhofs in Mattersburg macht mich sehr betroffen, schmerzt, insbesondere das Foto der Ansichtskarte aus dem Jahr 1910 im Vergleich zu heute – diese trostlose Leere und hohes Gras, durch das sich Besucher ihren Weg zu den wenigen noch vorhandenen Grabsteinen bahnen müssen …
Update:
Seit heute gibt es die (auf shtetlinks.jewishgen.org) gelaunchte
Website zu Mattersdorf.
(Ist bei uns im Blog auf der Übersichtsseite Friedhof-Mattersburg verlinkt).
Max Grunwald schreibt in seiner Arbeit “Mattersdorf” (Mitteilungen der Gesellschaft für Jüdische Volkskunde 1924-1925, S. 488-489):
“Schon vor Jahren schrieb an mich Herr Meier Benedikt, Mattersdorf, die Verwahrlosung des dortigen jüdischen Friedhofes habe einige junge Leute bewogen, Restaurierungsarbeiten vorzunehmen, um zu erhalten, was sonst unwiederbringlich verloren ginge. Etwa 60 Grabsteine wurden neu aufgestellt, zusammengekittet, entziffert und vor weiterer Verwitterung geschützt. Sie taten es laienhaft. Es fehlte ihnen jede wissenschaftliche, fachgemäße Anleitung. Wann wird sich die öffentliche Denkmalspflege dieser unaufschiebbaren Aufgabe erinnern? Wer wird die dankenswerte Arbeit dieser wackeren Pioniere fortsetzen?”
Im Anschluß an diese Frage veröffentlicht Grunwald dort einige Dutzende Texte von Grabsteinen. Für Interessierte: die erwähnte Arbeit ist On-line zu finden bei: http://compactmemory.de/ – Mitteilungen der Gesellschaft für Jüdische Volkskunde [Neue Folge] – 1924-1925.
Man muß dem Österreichischen Jüdischen Museum dankbar sein, daß es sicher durch die Publizierung des Materials von Isidor Öhler dieser Aufgabe angenommen hat. Dieses Projekt verdient eine breitere Unterstützung.
You write in this article:
“150 von der Chevra Kadischa gespendete (namenlose) Grabsteine (oder richtiger “Grabsteinattrappen”).”
Was it not Mr. Walter Pagler “Verein Schalom” who put up these stones?
Yes, you are right! It was Mr. Pagler’s initiative and his Verein Schalom (which doesn’t exist anymore) put up these stones, but this was in cooperation with the Chevra Kadischa and I think that the Chewra Kadischa paid it.
Ein wunderbares Projekt und auch technisch sehr schoen ausgefuehrt! Ich hoffe, die weiteren Grabsteine kommen bald!
Alle Grabsteine möglichst schnell online zur Verfügung stellen zu können ist auch unser Ziel. Ich bemühe mich wirklich sehr, etwa wöchentlich möglichst 10 Steine zu schaffen.
Nur leider stehen uns für dieses Projekt (wie auch für alle anderen Onlineaktivitäten) keine extra Ressourcen (weder Zeit noch Geld) zur Verfügung …
liebe Grüße Johannes