Personenregister jüngerer jüdischer Friedhof Eisenstadt
Bernhard (Baruch) Austerlitz, 08. Tammus 678 (= Mittwoch, 17. Juni 1918)
Standortnummer: 323
Die Grabinschrift
[1] H(ier ist) {Levitenkrug} g(eborgen) | פ {כד של לויים} ט |
[2] ein edler und vollkommener Mann, ein Gottesfürchtiger | איש יקר ותמם, ירא אלהים |
[3] aus einem Stamm von Gerechten, | חוטר מגזע גדולים וצדיקים |
[4] d(er) e(hrenhafte) H(err) Baruch Austerlitz Sega”l, | כהר ברוך אויסטערליץ סג”ל |
[5] Sohn des großen Lehrers in der Tora, d(es) V(orsitzenden) d(es) G(erichtshofes) von hier, |
בן הרב הגדול בתורה ר”א ב”ד דפה |
[6] d(es) seligen MORENU Benjamin Seev Sega”l, s(ein Andenken) m(öge bewahrt werden). | המנוח מוה”ר בנימין זאב סג”ל ז”ל |
[7] Er wandelte auf den Spuren seiner Väter. | בעקבי אבותיו הלך, |
[8] Morgens und abends war er im Gebetshaus. | נשף ושחר בבית התפלה. |
[9] Den Willen seines Schöpfers tat er. | רצון קונו עשה, |
[10] Er befasste sich m(it) M(ild)t(ätig)k(eit) und den Angelegenheiten der Gemeinde. | עסק בגמ”ח וצרכי קהלה. |
[11] Auch seine Kinder und seine Nachkommen | וגם בניו וצאצאיו |
[12] unterwies er auf dem Weg der Vollkommenheit. | הורה בדרך תמימים. |
[13] Die Herrlichkeit Gottes holte ihn ein, | ךבוד אלהים אספו, |
[14] (führte) seine Seele in die oberen Schatzkammern! | נפשו בגנזי מרומים! |
Sockel: Die Grabinschrift
[1] S(eine Seele) g(ing hinweg) am 8. Tammus des Jahres 678 n(ach der kleinen Zeitrechnung). | י”נ ביום ח תמוז שנת ת”רע”ח ל |
[2] S(eine) S(eele) m(öge eingebunden sein) i(m Bund) d(es Lebens). | תנצבה |
Sockel 2
[1] H. Czerny | |
[2] Wien 17/1 |
Anmerkungen
Zeile 3: Jesaja 11,1 חטר מגזע.
Zeile 6: MORENU bedeutet wörtlich “u(nser) L(ehrer), H(err)”. Den MORENU-Titel erhielten nur besonders gelehrte Männer, Bernhard Wachstein bezeichnet ihn als “synagogaler Doktortitel” (siehe Bernhard Wachstein, Die Inschriften des Alten Judenfriedhofes in Wien, 1. Teil 1540 (?)-1670, 2. Teil 1696-1783, Wien 1912, 2. Teil, S. 15).
Zeile 9: Babylonischer Talmud, Traktat Sanhedrin 42a רצון קונם in Zusammenhang mit dem Segensspruch über den Neumond קדוש לבנה; vor allem bekannt aus der Liturgie: so im Gebet “Gott, der Herr” אל אדון im Morgengebet für Schabbat- und Feiertage und in “Der Vater des Erbarmens” אב הרחמים anlässlich der Weihe des Neumondes am Schabbat vor Schavu’ot und vor Tischa’ be-Av nach dem Vorlesen der Tora. Hirsch übersetzt קונה mit “Eigner”, dem sie (jene die Gott treu geblieben sind, und die heiligen Gemeinden) mit jeder Faser ihres Daseins und jedem Splitter ihrer Kraft angehörten und der allein über sie zu verfügen hatte…” Hirsch Samson Raphael, Siddur. Israels Gebete, Zürich-Basel 1992, 351
Zeile 10: Die Zeile dürfte darauf hinweisen, dass Bernhard Austerlitz in der Chevra Qadischa tätig war. Die “Chevra qadischa (di-)gmilut chassadim”, meist nur kurz “Chevra Qadischa” oder “Bruderschaft” genannt, ist eine Wohltätigkeitsvereinigung, deren Aufgabe v.a. in der Betreuung mittelloser Kranker und der Bestattung Verstorbener liegt.
Zeile 10: Tosefta, Traktat Brachot I,4; vgl. II,6 שעוסקין בצרכי צבור u.a. Der Vers deutet auf ein öffentliches Amt in der Gemeinde hin und findet sich fast ausschließlich auf Grabinschriften der dritten und vierten Reihe, also auf Grabsteinen von herausragenden Gelehrten, die in der Gemeindehierarchie unmittelbar hinter den (Ober-)Rabbinern und Rabbinatsassessoren kamen.
Zeilen 7/9/11/13: Akrostichon: Die Anfangsbuchstaben ergeben den hebräischen Vornamen des Verstorbenen (Baruch).
Zeile 13: Anfangsbuchstabe כ wegen Akrostichon hier mit Finalbuchstaben ך geschrieben.
Zeile 14: Midrasch suta zu Hohelied 1,4 גנזי מרום. Da hier die “oberen Schatzkammern” als Wohnort für die Frommen Israels verstanden werden, wurde das Zitat wohl bewusst gewählt, um den Verstorbenen in die Reihe der Frommen zu stellen. Der hebräische Ausdruck, ein Beiname für den Garten Eden, lehnt sich an Ezechiel 27,24 an ובגנזי ברמים.
Biografische Notizen
Bernhard (Baruch) Austerlitz, Privater, geb. am 15. Juni 1836 in Eisenstadt, gest. am 17. Juni 1918 (also kurz nach seinem 82. Geburtstag!) um 22 Uhr an Altersschwäche. 22 Uhr war schon der 08. Tammus, aber noch der 17. Juni 1918; wh.: Unterberg-Eisenstadt 25
Der sehr knappe Geburtseintrag ist ein Nachtrag aus dem Jahr 1854 (!) in den Geburtsmatriken am Schluss des Jahres 1836.
Vater: Wilhelm (Wolf ben Salman ha-Levi) Austerlitz (?), gest. 16. November 1868, begraben am älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt
Mutter: Theresia (Rösel Frau Wolf ha-Levi) Austerlitz, geb. Spitzer (?), gest. 09. Jänner 1856, begraben am älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt
Die Elternschaft ist ein wenig unsicher. Grundsätzlich halte ich die Elternschaft für ausreichend belegt, jedoch sollen die Pros und Kontras kurz erläutert werden:
Für die Elternschaft spricht:
- Der Vater wird in Zeile 6 der hebräischen Grabinschrift als “MORENU Benjamin Seev Sega”l” genannt. “Seev” = “Wolf”, Wilhelm (Wolf ben Salman ha-Levi) Austerlitz war auch MORENU.
- Der Vater wird in Zeile 5 als großer Toragelehrter und Vorsitzender des Gerichtshofes bezeichnet. Das passt alles auf Wolf ben Salman ha-Levi Austerlitz, der nicht Rabbiner war, sondern nach Rabbiner Hildesheimers Weggang von Eisenstadt als Rabbinatsverweser (Richter) eingesetzt wurde.
- O.g. Vater ist mit Theresia (Rösel) Spitzer verheiratet.
Was offen bleibt, ev. sogar gegen eine Elternschaft sprechen könnte:
- Der in der hebräischen Grabinschrift (auch in der Grabinschrift seines Bruders Heinrich) genannte Vorname des Vaters “Benjamin” kommt in der hebräischen Grabinschrift des Vaters nicht vor und ist auch sonst nicht nachweisbar.
- In den Sterbematriken wird der Vater als “verheiratet” bezeichnet (s. Sterbematriken dort). Seine Ehefrau Theresia, geb. Spitzer, starb jedoch 1856, er müsste also als “verwitwet” eingetragen sein. Eintragunsfehler?
- In den Geburtsmatriken von Bernhard (s.o.) findet sich nur der Name des Vaters, leider nicht jener der Mutter (s.o.).
Schwestern:
Anna (Ginendel / Netti) Schneider, geb. Austerlitz, geb. 1823?, gest. 15. Jänner 1906
Eleonora / Lina Pollak, geb. Austerlitz, geb. 11. Oktober 1840 in Eisenstadt (Beruf des Vaters: Handelsmann), verh. mit Valentin Pollak,
Töchter:
Rosi Pollak, geb. 18. September 1862 in Eisenstadt 123
Fanni Pollak, geb. 18. Mai 1864 in Eisenstadt 129
Gisella Pollak, geb. 30. Mai 1874 in Oberberg-Eisenstadt
Söhne:
Simon Pollak, geb. 06. Oktober 1865 in Eisenstadt 128
Samuel Pollak, geb. 02. November 1877 in Leithaprodersdorf
Charlotte Pollak, geb. Austerlitz, geb. 20. Juni 1842 in Eisenstadt (Beruf des Vaters: Jurist (sic!)), geh. 12. März 1861 Gerson Pollak, geb. 12. Februar 1834 in Eisenstadt, Sohn von Simon Pollak und Karoline (Pollak), wh.: Eisenstadt, Mayerhof 132;
Tochter: Erna (Elke/a) Geiger, geb. 29. März 1876 in Eisenstadt, gest. ebd. 04. Jänner 1932
Brüder:
Moritz (Meier) Austerlitz, geb. 05. Dezember 1833 in Eisenstadt (Mutter: Rosaly, Beruf des Vaters: Produktenhändler)
In den Geburtsmatriken der IKG Wien ist “Moritz” durchgestrichen, in den Geburtsmatriken Sopron findet sich nur “Moritz” eingetragen (dort lese ich das hebräische “Meier” mit Vorbehalt).
Joachim Heinrich / Benedict (Mose Chajim) Austerlitz, geb. 16. Oktober 1835 (23. Tischre, Simchat Tora 596) in Eisenstadt, gest. 28. Dezember 1909
Ehefrau: Rosa Pollak, Tochter des Valentin Pollak und der Ernestine (Pollak), geh. 03. Juli 1860, wh: Eisenstadt Israelitengasse 25. Bernhard war bei der Hochzeit 24 Jahre, Rosa 26 Jahre alt, beide ledig.
Töchter:
Rosi (Resl) Austerlitz, geb. 22. August 1865 in Eisenstadt 24 (Vater: Baruch)
Ernestine Austerlitz, geb. 23. November 1866 in Eisenstadt, Israelitengasse 29, (Vater: Benedikt)
Eleonore (Elli Tochter Baruch ha-Levi) Austerlitz, geb. 01. März 1870, gest. 12. Mai 1870, begraben am älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt (Eintrag im Sterbebuch Eisenstadt nicht gefunden)
Berta Austerlitz, geb. 04. November 1876 in Unterberg-Eisenstadt (Information aus Index, Eintrag konnte leider nicht verifiziert werden)
Söhne:
Moritz (Meir) Austerlitz, geb. 17. März 1862 in Eisenstadt 25 (Vater: Baruch)
“Meir” in den Geburtsmatriken der IKG Wien lese ich mit Vorbehalt.
Sigmund Austerlitz, geb. 10. April 1863 in Eisenstadt 24
Rudolf (Uriel) Austerlitz, Kellermeister, geb. 29. Mai 1864 in Eisenstadt (Vater: Baruch), geh. 15. August 1893 Jenni Schlesinger, Tochter des Adolf Schlesinger und der Marie Fischer, Geburts- und Wohnort: Oberberg-Eisenstadt. Rudolf war bei der Hochzeit 29 Jahre, Jenni 18 Jahre alt, beide ledig.
Tochter: Bella Austerlitz, geb. 18. Juli 1894 in Oberberg-Eisenstadt
Simon Austerlitz, geb. 01. November 1868 in Eisenstadt, Israelitengasse 23 (Vater: Benedikt)
Wilhelm (Wolf) Austerlitz, geb. 26. September 1871 in Eisenstadt 27, gest. 31. Jänner 1874, begraben am älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt
Valentin Austerlitz, geb. 23. September 1873 in Eisenstadt, am 26. Jänner 1942 nach Riga deportiert und dort knapp nach seiner Ankunft ermordet ( Schoa-Opfer!), s.u. Kommentar von Valentin Austerlitz.
Samuel Austerlitz, geb. 01. März 1875 in Eisenstadt
Material und Maße des Grabsteins
Diorit, 200/80/39
Personenregister jüngerer jüdischer Friedhof Eisenstadt
Guten Tag.
Mein Name ist Valentin Austerlitz, mein Großvater war der hier erwähnte Valentin Austerlitz, mein Vater hieß Franz Austerlitz.
Zur Ergänzung, falls gewünscht, teile ich ihnen mit, daß mein 1873 geborene Großvater Valentin Austerlitz im Januar 1942 nach Riga deportiert wurde und dort knapp nach Ankunft ermordert wurde.
Sehr geehrter Herr Austerlitz, vielen Dank für Ihren Kommentar! Ich habe oben bei Ihrem Großvater entsprechend ergänzt.
Mit besten Grüßen, Johannes Reiss