Dieser Artikel war ursprünglich die 7. Podcastfolge, die ich während meiner Zeit im Österreichischen Jüdischen Museum in Eisenstadt am 23. Mai 2020 publizierte. Die Podcastreihe “Koscher Schmus” wird auf “Der Transkribierer” nicht fortgeführt, die von mir erstellten Podcasts werden jedoch als Artikel zur Verfügung gestellt.
In der Dauerausstellung des Österreichischen Jüdischen Museums in Eisenstadt befindet sich in einem Raum eine Spielkarte an der Decke, die nur dazu dient, damit Besucherinnen und Besucher fragen, warum die Karte dort oben ist und ich folgende Geschichte erzählen konnte:
Im Jahr 1730 werden vom ersten offiziellen Rabbiner der noch jungen jüdischen Gemeinde Eisenstadt, Rabbi Meir Eisenstadt (gestorben 1744 und am älteren jüdischen Friedhof von Eisenstadt begraben) “Verordnungen zur Verbesserung der Sitten irgendwelcher widrigen Umstände wegen” verbindlich festgelegt. Dabei geht es neben der neumodischen Kleidung und der wie es heißt “frechen Gewandung” der Frauen, gemeint sind vor allem die Reifröcke, auch um Vorschriften, die das Tanzen oder das Spaziergehen (sic!) von Frauen und Männern regeln. Die bekannteste Verordnung betraf aber das Kartenspielen.
Dieses wurde nämlich mit der Strafe des Bannes verboten, und zwar eine Meile weit im Umkreis der jüdischen Gemeinde. Wie streng die Übertretung des Verbotes geahndet wurde, ist etwa 1739 zu ersehen, wenn den Herren David Schnürmacher und Rafael ben Koppel Spitz wegen neuerlicher Übertretung des Kartenspielverbotes sogar das Heimatrecht aberkannt wird!
Rabbi Meir Eisenstadt greift bei seinen Verordnungen auf ältere Luxus- und Sittenverordnungen zurück, das Kartenspiel etwa verbieten schon die mittelalterlichen Tekannot SCHUM, die Verordnungen der jüdischen Gemeinden Speier, Worms und Mainz.
Ab sofort war also das Kartenspielen verboten und zunächst nur zweimal im Jahr (zu Chanukka und bei Wöchnerinnen), später dreimal im Jahr erlaubt: zu Chanukka und Purim durften Männer spielen, wenn auch keineswegs mit Frauen oder jungen Burschen oder jungen Mädchen, selbst dann nicht, wenn sie miteinander verwandt sind. Und die dritte Erlaubnis betraf die Wöchnerinnen: In dieser Zeit durften Frauen spielen, bei Jungen 40, bei Mädchen 80 Tage.
Das Verbot des Kartenspielens förderte natürlich die Kreativität einzelner Gemeindemitglieder. So war vor allem Frau Frumet Wolf, Babe Frumet, die Urmutter der berühmten Weinhändlerfamilie Wolf, als wahrhaft Süchtige verrufen. Sie soll sich von armen Wöchnerinnen oft die Wohnungsschlüssel geben haben lassen, wenn selbige schon längst ihren Geschäften nachgingen. Natürlich revanchierte sie sich durch Mahlzeiten und Geldspenden. An Feiertagen oder Halbfeiertagen, wird mehrfach berichtet, ließ sie es sich nicht nehmen, mit ihren Freundinnen ins nächste Dorf ‒ wo der Bann nicht mehr galt! ‒ zu gehen, um dort den Tag mit Kartenspiel zuzubringen.
Weil es keinen Bann gibt, der, wenn er aufgehoben war, automatisch seine Gültigkeit wiedererlangt, sondern nur, wenn er von Neuem erklärt wird, verlängerte der Rabbiner (in Übereinstimmung mit dem Gemeindevorsteher) jeweils die Zeitdauer der Erlaubnis um einige Tage. Und bis 1938 verkündete der Rabbiner oder der Vorbeter von der Bima, dem Vorlesepult, und neben der Torarolle: Das Spielen ist “asur ke-vime kedem”. Das Spielen ist verboten wie früher.
Friederike Spitzer, Tochter des Eisenstädter Tuchhändlers Ignatz Spitzer, heiratete am 19. März 1883 in Eisenstadt Angelo Feuchtwanger aus München. Er war der Onkel 2. Grades des weltberühmten Schriftstellers Lion Feuchtwanger und als bayerisches Urgestein bekannt. Er liebte die Münchner Mundart, liebte Berge und Bier (und Karten möchte man ergänzen) und ging aufs Oktoberfest. Nach seinem täglichen Synagogenbesuch kehrte er meist ins Hofbräuhaus ein, auch am Schabbat. Nur ließ er am Schabbat eben anschreiben, weil der Umgang mit Geld am Schabbat nicht erlaubt ist. Friederike Spitzer ist mit den alten Eisenstädter Traditionen und Vorschriften aufgewachsen. Wie groß war wohl ihre Überraschung über die neuen Sitten und Bräuche mit Angelo Feuchtwanger in München?
Barzen Rainer Josef, תקנות קהילות שו”ם: התקנות של קהילות רינוסג מגנצא, וורמייזא, ושפירא בימי הבניים, Teil 1, MGH – Hebräische Texte aus dem mittelalterlichen Deutschland, Band 2 von Monumenta Germaniae Historica. Hebräische Texte aus dem mittelalterlichen Deutschland, Wiesbaden 2019.
Wachstein Bernhard, Die Grabinschriften des Alten Judenfriedhofes in Eisenstadt, Eisenstädter Forschungen, hrsg. von Sándor Wolf, Band I, Wien 1922, 69, Fußnote 1.
Wachstein B., Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Eisenstadt und den Siebengemeinden, Eisenstädter Forschungen, hrsg. von Sándor Wolf, Band II, Wien 1926, 145ff.
Rabbiner Avraham Radbil, Jackpot für Juden?, Jüdische Allgemeine, 29. 06. 2015.
Reiss Johannes, Orthodoxie und Oktoberfest, 16. Juli 2017.