Über die Kategorie “Bagatellen”
Der Grabstein befindet sich am neuen jüdischen Friedhof Nikolai (Mikołów), Polen. Das Foto wurde mir vom Nikolaier Geschichtsverband (Mikołowskie Towarzystwo Historyczne) zur Verfügung gestellt, der auch alle Rechte am Foto hat.
Josef, Sohn Mose, 1. Neumondtag Adar II = 30. Adar I 548 (= Sonntag, 09. März 1788)
Die hebräische Grabinschrift
[1] Hier ist begraben | פ”נ |
[2] ein rechtschaffener und tugendhafter Mann, | איש ישר וכשר |
[3] von tugendhaftem Stamm, die Gebote erfüllend. | מגזע כשא לדבר מצוה |
[4] Flink wie ein Adler war er, der Herr, Herr Josef, | היה קל כנשר הרר יוסף |
[5] Sohn unseres Lehrers, des Herrn, und unseres Meisters, des Herrn Mose, sein Andenken möge bewahrt werden, der hinging | במהורר משה זל שהל” |
[6] in seine Welt und begraben wurde am ersten Neumondtag des Monats | לעולמו ונקבר א” ד”ר”ח | [7] Adar II des Jahres 548 | אדר שני שנת ת”ק”מ”ח” |
[8] nach der kleinen Zeitrechnung. S(eine) S(eele) m(öge eingebunden sein) i(m Bund) d(es Lebens). | לפ”ק ת’נ’צ’ב’ה |
Anmerkungen
Zeile 1: Die Einleitungsformel wird im Hebräischen meist abgekürzt: פ”נ = פה נקבר “Hier ist/liegt begraben”.
Zeile 3: S. u.a. babylonischer Talmud, Traktat Jevamot 62b אֲבָל לִדְבַר מִצְוָה — מִיטְּרִידִי “…wenn aber zu einer gottgefälligen Handlung, so ist man zerstreut.”
Zeile 4: Pirke Avot 5,20 הֱוֵי עַז כַּנָּמֵר, וְקַל כַּנֶּשֶׁר, וְרָץ כַּצְּבִי, וְגִבּוֹר כָּאֲרִי, לַעֲשׂוֹת רְצוֹן אָבִיךָ שֶׁבַּשָּׁמָיִם “Sei mutig wie der Leopard, leicht (flink) wie der Adler, schnell wie der Hirsch und stark wie der Löwe, den Willen deines Vaters im Himmel zu vollziehen”.
Zeile 5: Die hebräische Abkürzung במהורר wird aufgelöst in בן מורנו הרב ורבינו רבי, wörtlich: “Sohn unseres Lehrers, des Herrn, und unseres Meisters, des Herrn”. Die Abkürzung מהורר wird auch gelesen als “(Ben) MORENU”. Bezeichnet wird damit ein Titel, den nur besonders gelehrte Männer erhielten. Siehe besonders Bernhard Wachstein, der den MORENU-Titel als “synagogalen Doktortitel” bezeichnet (Bernhard Wachstein, Die Inschriften des Alten Judenfriedhofes in Wien, 1. Teil 1540 (?)-1670, 2. Teil 1696-1783, Wien 1912, 2. Teil, S. 15).
Der Segenswunsch nach dem Vornamen Mose ז”ל wird im Hebräischen meist abgekürzt und aufgelöst in זכרונו לברכה und mit “sein Andenken zum Segen” o.ä. übersetzt. Bezieht sich dieser Segenswunsch auf Mose, dann zeigt er an, dass der Vater zum Zeitpunkt des Ablebens des Sohnes bereits verstorben war (der Segenswunsch könnte sich auch auf den Verstorbenen selbst, auf Josef, beziehen. Das lässt sich nicht eindeutig feststellen).
Die hebräische Abkürzung am Zeilenende (die letzten drei Buchstaben שהל”) werden aufgelöst in שהלך “der (hin)ging” (“der” als relativer Anschluss im Sinne von “welcher”). Verständlich mit der Fortsetzung in der nächsten Zeile 6 “in seine Welt”.
Zeile 6: Siehe Kohelet 12,3 כִּֽי־הֹלֵ֤ךְ הָאָדָם֙ אֶל־בֵּ֣ית עוֹלָמ֔וֹ “denn bald geht der Mensch in sein ewiges Haus”. “Der hinging in seine Welt” ist natürlich ein Euphemismus für “sterben”.
Zeile 6/7: Da der im jüdischen Kalender in einem Schaltjahr eingeschobene Monat Adar I 30 Tage hat, gibt es im (eigentlichen) Monat Adar II (der, wie in einem Nicht-Schaltjahr, 29 Tage hat) auch zwei Neumondtage. Der erste Neumondtag (in unserem Fall das Sterbedatum) ist der letzte Tag des Vormonats, also der 30. Adar I.
Zeile 8: Die übliche hebräische Abkürzung לפ”ק wird aufgelöst in לפרט קטן (lifrat katan) und bedeutet “nach der kleinen Zählung”, also dass der Tausender der Jahreszahl nicht geschrieben wird. Im konkreten Fall: 569 und nicht 5569.
Die sogenannte Schlusseulogie (“das gute Wort am Ende der Inschrift”) ist eigentlich ein Zitat aus 1 Samuel 25,29, wo Abigail zu David sagt: “so soll das Leben meines Herrn eingebunden sein in das Bündel der Lebendigen” וְֽהָיְתָה֩ נֶ֨פֶשׁ אֲדֹנִ֜י צְרוּרָ֣ה ׀ בִּצְר֣וֹר הַחַיִּ֗ים .
Biografische Anmerkung
Josef, Sohn Mose, gestorben und begraben 1. Neumondtag Adar II = 30. Adar I 548 = Sonntag, 09. März 1788.
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