Eine Hypothese …
Vielen Dank an Meir Deutsch, der uns dieses sonst weitgehend unbekannte Bild der Tafel schickte, die an der Synagoge in Mattersdorf angebracht war. Wir kannten das Bild dieser Tafel selbst nicht und auch in der uns bekannten Literatur fanden wir zwar Hinweise auf die Tafel, aber kein Bild von ihr.
According to the plaque that was plastered at the front of the Synagogue it was first built in 5114 which is 1353-1354, but this date seems too early. I have seen a picture of the plaque, and it seems to me that it can be read as 5310 קיר and not קיד, which correspond to 1550 [we see that the three Hebrew letters have a dot over them, which usually means that you have to add the value of these letters and not to read them consecutively as a date, as the other year on the plaque 5635]. This date fits with the expulsion of the Jews from Odenburg in 1527, which settled in Mattersburg.
Meir Deutsch, Yalde Shabat, Jerusalem 2008, S. 42.
Meir Deutsch weiter:
It is said that the “Founders” of the Jewish community in Mattersdorf were the six Families of the tribe of Levi, that were expelled from Spain and Settled in Mattersdorf. The Jews were expelled from Spain in 1492 = 5252. If we take the reading of the date on the Plaque as 5310 = 1550, than we get that the first Synagogue was built just 58 years after the expulsion of the Jews from Spain and only 23 years after Odenburg expelled its Jews who settled in Mattersdorf.
Schön der Reihe nach, zuerst die Übersetzung:
- Erstgebaut im 6. Jahrtausend im Jahre “KID” (oder) “KIR” (der 3. und letzte Buchstabe des letzten Wortes der 1. Zeile ist umstritten)
- und von neuem errichtet im Jahr 635 (= 1875).
- So höre du sie im Himmel, (s. 1 Könige 8,32 u.a.)
- wenn sie kommen um zu beten n(ach der) k(leinen) Z(eitrechnung). (Der Zahlenwert des Nebensatzes ergibt noch einmal 635, also das Jahr 1875!)
1. Zeile:
Das 6. Jahrtausend beginnt (umgerechnet) im Jahr 1240/41.
Je nachdem, ob wir קיר oder קיד lesen, erhalten wir ‒ wie auch Meir Deutsch schreibt ‒, entweder 114 oder 310, umgerechnet also das Jahr 1353/54 oder 1550/51.
Meir Deutsch plädiert für die Lesung קיר, also “KIR” (1550), und argumentiert damit, dass wir im Mittelalter keine jüdische Gemeinde in Mattersdorf belegt haben, 1550 aber insbesondere deshalb möglich wäre, weil eine jüdische Besiedlung Mattersdorfs nach der Vertreibung der Juden aus Ödenburg (Sopron) belegt ist.
Auch Hodik schreibt:
Möglicher Ausgangspunkt für die Historie bleibt in jedem Fall die an der Gassenfront der Synagoge entdeckte Tafel, die als Erbauungsdatum das Jahr 5114 (1353/54) ausgewiesen haben soll (Anm.: Hodik kennt die Tafel offenbar nicht). Dürfen wir aber diese Angabe ohne weiteres übernehmen und genügt sie denn, um mit Sicherheit auf die Existenz einer jüdischen Siedlung zu jener Zeit schließen zu können?
…
Historisch gesichertes Terrain betreten wir erst am Ende des 15. bzw. zu Beginn des 16. Jahrhunderts. …
Fritz P. Hodik, Beiträge zur Geschichte der Mattersdorfer Judengemeinde im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 7f.
Dieselbe Auffassung vertritt Harald Prickler:
Der Hauptort der Grafschaft Forchtenstein war Mattersdorf (das heutige Mattersburg): Hierher übersiedelte Juden sind seit 1527 mehrfach nachweisbar, das Urbar der Grafschaft Forchtenstein von 1526 weist in Mattersburg noch keinen Juden aus, hingegen anstelle der späteren Judenhäuser viel öde Hofstätten (Söllnerhäuser). 1438 wird zwar der in Mattersburg wohnhafte Juden Kysaan mit seiner Frau Mendel urkundlich genannt, er trat als Gläubiger der Grafen von Forchtenstein und ihres Burghauptmanns Hans Linzer auf, doch kann aus dieser vereinzelten Nennung keineswegs auf den Bestand einer jüdischen Gemeinde im Mittelalter an dieser Stelle geschlossen werden (Hervorhebung von mir). Die neue Judensiedlung entstand seit 1526 auf dem zum herrschaftlichen Meierhof gehörigen herrschaftlichen Gelände (Kurialgrund), auf dem sich die 1291 geschleifte Burg Mattersdorf befunden hatte, im Anschluss an die Marktsiedlung flussabwärts.
Harald Prickler, Beiträge zur Geschichte der burgenländischen Judensiedlungen, in: Juden im Grenzraum, Eisenstadt 1993, S. 72f.
Bleibt schließlich noch Max Grunwald zu zitieren, der zumindest nicht abgeneigt zu sein scheint, die Frühdatierung 1354/55 zumindest in Erwägung zu ziehen:
Der Mattersdorfer Rabbinatsassessor Reb Joel Fellner und Reb J. Hirsch ließen sich in die Kuppelhöhe des Tempels hinaufseilen, um die in der Kuppel befindliche Jahreszahl zu enträtseln. Es stand dort: “ad ki jawo Schiloh lefak”, das wäre 462 = 1702 der bürgerlichen Zeitrechnung. An der Gedenktafel der Gassenfront des Tempels liest man als Erbauungsdatum 5114 (1354). Sollte diese Zahl das Erbauungsdatum richtig wiedergeben, dann muss angenommen werden, dass im angeführen Vers die ersten 5 Buchstaben besonders gekennzeichnet waren, welche als Prat katan kaf jud dalet ergeben.
Max Grunwald, Mattersdorf, in: Jahrbuch für Jüdische Volkskunde 1924/25, hrsg. v. Max Grunwald, Berlin 1926, S. 415f.
Grunwalds Formulierung ist ein wenig missverständlich, er meint, dass die Inschrift in der Kuppel nicht nur die Jahreszahl 462 (1702) angibt, sondern auch zusätzlich (?) das Gründungsjahr der Synagoge angeben will: עד כי יבא שילה ist ein Zitat aus Genesis 49,10 (Der Segen Jakobs) “bis der kommt, dem er gehört (der Herrscherstab)“.
Grunwalds Versuch, das Gründungsdatum der Gedenktafel auch im Zitat der Kuppel wiederzufinden, darf fast als rührend bezeichnet werden. Auch wenn die Zahlenwerte der ersten 5 Buchstaben des Verses tatsächlich 114 (also 1354) ergeben, es bleibt Theorie. Auch Hodik (siehe oben) unterstützt die Theorie Grunwalds nicht, sondern hält es für sehr wahrscheinlich, dass sich die Jahreszahl in der Kuppel (1702) auf den Abschluss von Instandsetzungsarbeiten an der Synagoge bezieht (allerdings hat Hodik, wie schon angeführt, die Gedenktafel nicht gesehen!).
Off topic: Warum mussten sich die beiden Kuppelinschriftsinspizienten eigentlich hinaufseilen lassen, war die Inschrift so klein geschrieben? Und haben sie die Details nicht überliefert oder gab es keine?
Zwischenstand und drei hebräische Buchstaben unter der Lupe
Wir halten also fest: Es gibt keine weiteren historischen Hinweise oder gar Belege für eine mittelalterliche jüdische Gemeinde in Mattersdorf, lesen wir auf der Gedenktafel als Gründungsdatum der Synagoge wirklich קיד für 114 (1354/55) (und lassen die Kuppelinschrift und die Theorie Grunwalds einmal außen vor), wäre dies der einzige Beleg für eine Frühdatierung einer jüdischen Gemeinde in Mattersdorf!
Und doch tendiere ich dazu קיד, also 114 (1354/55) zu lesen:
- Meir Deutsch argumentiert, dass die Punkte über dem letzten Wort der 1. Zeile (mit dem die Jahreszahl angegeben wird) besondere Berücksichtigung verdienen, da bei der anderen Jahreszahl (in der 2. Zeile) keine Punkte über den hebräischen Buchstaben zu finden sind (sprich: Lies die erste Jahreszahl (auch) als Wort, die zweite als bloße Jahreszahl). Allerdings finden wir auch keine Punkte über den Buchstaben in der letzten Zeile, in der aber der gesamte Satz – werden die einzelnen Buchstaben als Zahlenwerte gelesen – ebenfalls die Jahreszahl 635 (=1875) ergibt! Das am Schluss der Inschrift stehende “LP’K” (nach der kleinen Zeitrechnung) לפ”ק bezieht sich somit auf alle 3 in der Inschrift vorhandenen Jahreszahlen!
- Das hebräische Wort “KIR” קיר bedeutet “Mauer/Wand” (seltener und nur in bestimmtem Kontext auch “Stadt”). Dies ergibt aber im Zusammenhang mit dem Gründungsdatum der Synagoge wenig Sinn.
- Was auch gegen die Lesung “KIR” קיר spricht: Sollte wirklich die Jahreszahl 310 (1550/51) angezeigt werden, warum dann nicht gleich mit dem im Kontext sinnvolleren Wort “KRI” קרי “Lesung”? Außerdem hätte man damit nicht nur ein sinnvolleres Wort, sondern auch die Zahlenwerte der Buchstaben in ihrer gewohnten Reihenfolge (Hunderter-, Zehnerzahl) gehabt!
- Die Lesung “KID” קיד, also der Zahlenwert 114 und somit das Jahr 1354/55 ermöglicht uns nicht, ein sinnvolles Wort zu lesen, die Zahlenwerte der Buchstaben wären aber in ihrer gewohnten Reihenfolge, die 3 Buchstaben einfach als Jahreszahl zu lesen. Den Punkten über den Buchstaben messe ich auch keine besondere Bedeutung bei (siehe oben erstes Argument).
- Die Formulierung “im 6. Jahrtausend” באלף הששי finden wir häufig im Mittelalter (Beispiel: 1252), kurz oder relativ kurz nach der Jahrtausendwende (1240). Die jüngsten Belege mit dieser Formulierung auf deutschen Grabsteinen etwa datieren aus dem Jahr 1438. Für das 15. und 16. Jahrhundert ist die Quellenlage dünn, tendenziell würde ich die Formulierung in der Mitte des 16. Jahrhunderts aber eher nicht erwarten, eine bewusste archaische Formulierung ist jedoch auch nicht auszuschließen.
Es bleiben viele Fragen:
- Die Tafel wurde 1875 (oder später) an der Gassenfront der Synagoge angebracht. Die Verfasser des Textes auf der Tafel mussten sich auf Traditionen, vielleicht auch auf schriftliche Quellen bezüglich des Gründungsdatums berufen können, haben den Text vielleicht sogar ganz oder teilweise von einer alten Tafel/Vorlage etc. wörtlich übernommen (siehe Formulierung “6. Jahrtausend”).
- Könnten dabei Fehler passiert sein? Oder handelt es sich beim Datum 1354/55 etwa um Traditionen, die vielleicht mehr auf Legendenbildung als auf historischen Tatsachen beruhen?
- Stimmt am Ende Grunwalds Theorie doch, dass wir auch in der Kuppelinschrift der Synagoge das Gründungsdatum 114 (1354/55) finden und hätten wir damit einen zweiten Hinweis auf eine Frühdatierung des Enststehens der jüdischen Gemeinde Mattersdorf? Sehe ich mir manche Grabinschrift auf dem jüdischen Friedhof Mattesdorf an, möchte ich nicht einmal wirklich ausschließen, dass in der Kuppelinschrift sogar beide Daten, 1702 und 1354 zu finden gewesen sein könnten.
- …
Conclusio
Ich lese die Gründungsjahreszahl auf der Gedenktafel der Synagoge als 314 (1354/55), bin mir aber bewusst, dass ein einziger – noch dazu unsicherer – Beleg nicht reicht, um den Beginn einer jüdischen Besiedlung in Mattersdorf sicher ins Mittelalter zu datieren.
Und doch – ich würde mich wahrlich nicht wundern, sollten doch einmal (weitere) Dokumente auftauchen, die beweisen, dass auf dem heute burgenländischen Teil Westungarns damals nicht nur Eisenstadt eine voll ausgebildete jüdische Gemeinde besaß!
Danke
Danke an Meir Deutsch, Israel, für das Bild der Gedenktafel und für die Anregung, mich näher mit ihr auseinanderzusetzen!
Danke an Frau Nathanja Hüttenmeister vom Salomon Ludwig Steinheim Institut Duisburg für wertvolle Anregungen zur Inschrift :)!
Als Beilage zu unserer heutigen Melange empfehlen wir das wunderbare Buch von Michael Brocke “Verborgene Pracht – Der jüdische Friedhof Hamburg-Altona – Aschkenasische Grabmale sowie auch ganz besonders die großartige epigraphische Datenbank “epidat” des Salomon Ludwig Steinheim Instituts für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen.
Sehr geehrter Herr Mag. Johaness!
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie konten die Bilder der Synagogen von Burgenland vor die Zerstörung uns senden..
Wir brauchen sie für die Herausgebung von der buch “Synagogues in Austria”
Mit freundlichen Gruessen
Dr. Milka Zalmon
Liebe Frau Dr. Zalmon,
mach ich gerne, geben Sie mir bitte nur ein paar Tage Zeit …
herzliche Grüße, Johannes Reiss
@ Carole Vogel
He actually published a few books, among them:
Die Landsynagogen im Burgenland und Niederösterreich
by Pierre Genee; Informationszentrum Im Dienste der Christlich-Juedischen Verstaendigung.
Book
Language: German
Publisher: Wien : Informationszentrum im Dienste der Christlich-Jüdischen Verständigung, 1991.
I was quoting from a lecture he gave. He did not present any source material.
I do not think that he denies The Shischas, but he questions whether the Jewish community of Mattersdorf was founded by Sephardic Jews.
I do not know his address, but am sure that Mr. Johannes Reiss will be able to help you in this matter.
DNA testing is not my field.
yes, I know Dr. Genee, I meet him two or three times a year in Eisenstadt. Of course I can ask him but I’m pretty sure, that he does not know more about the Sephardic origins of the jewish community of Mattersdorf than he wrote in his book.
And in his book we find the sentence, which has Meir quoted above.
Viele Danken für Ihre Initiative.
Als eine Nachkomme die Schischa Familie möchte ich bedeuten das nach unsereTradition, die Gründer waren 6 brüder und nicht 6 Familien. Mit freundlichen Grüßen, Dr. Milka Zalmon
@ Dr. Milka Zalmon. It might well be six brothers and not six families. But as you say it is a tradition. Just for your information, I want to quote Pierre Genee from Vienna (Author of “Wiener Synagogen 1825-1938”) who was addressing the Studientagugen held in 1994 in the Bar-Ilan University. He said: “Ob auch sephardische Familien [he says families not brothers] an der Gruendung der Mattersdorfer Judengemeinde beteiligt gewesen sind, bleibt offen.”
@ Meir Deutsch. I would be most interested in seeing Pierre Genee’s source material for his conclusion that the Sephardic origins of the Mattersdorf synagogue is still an open question. Does he also question whether the Jewish community of Mattersdorf was founded by Sephardic Jews? If so, DNA testing by descendants of the earliest community members (especially known descendants of the Schischa family) could put that issue to rest.
Mail schon unterwegs!
Now I would try another hypothesis:
The plaque tells us that the Synagogue was נתקן מחדש in the year 5635.
Max Grunwald (or whoever climbed for him to the ceiling) saw the writing עד כי יבא שילה לפ”ק which means the year 5462.
If we take these two facts (let us suppose that both are correct) then we can come to the conclusion that the Synagogue of 5635 was not a new Synagogue, but the refurbished old Synagogue with a nearly 200 years old writing on its ceiling.
Good morning @Meir,
ich bin davon ausgegangen. Vergleichen wir die Geschichte einmal mit Eisenstadt:
Hier gab es ebenfalls eine alte Synagoge aus dem Ende des 17. Jahrhunderts/Anfang 18. Jh., 1832 wurde der Grundstein zur neuen Synagoge gelegt, weil die alte Syngoge zu klein geworden war!
Nur das ist der Punkt: In den Jahren um 1832 nimmt die jüdische Bevölkerung in den einzelnen Gemeinden realtiv stark zu, Mitte des 19. Jahrhunderts haben wir bekanntlich überall die höchsten Zahlen an jüdischer Bevölkerung in den Ortschaften mit jüdischen Gemeinden.
Daher passt das auch sehr gut, dass die Synagoge in Eisenstadt zu klein geworden ist und eine neue, größere, gebaut werden musste.
In Mattersburg haben wir auf unserer Gedenktafel aber gleich zweimal das Jahr 635, also 1875.
Und das scheint mir doch ein wenig spät zu sein um anzunehmen, dass eine neue, wohl größere Synagoge gebaut wurde. Denn in diesen Jahren, also in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, setzt die starke wirtschaftliche Abwanderung aus dem Burgenland ein. Die ersten Berichte darüber gibt es eben aus der Mitte des 19. Jahrhunderts! Um die Größenordnungen in etwa anzugeben: zwischen 1880 und 1938 haben z.B. im südlichen Burgenland, mehr als 8.000 Migranten den Bezirk Güssing verlassen, das war ein Viertel der Einwohnerzahl des Bezirks von 1939.
Lebten 1850 auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes noch etwa 8.000 Juden, lebten 1923 nur mehr 3.270 hier. Die “Halbierung” ist umlegbar auf die einzelnen Gemeinden.
Daher meine ich, dass 1875 doch zu spät ist um davon auszugehen, dass in Mattersdorf eine größere Synagoge notwendig gworden wäre. (Eisenstadt 1832 passt wunderbar!).
Ich würde daher auch eher davon ausgehen, dass die Synagoge renoviert, nicht aber neu errichtet wurde.
Dazu müsste es aber doch historische Dokumente geben, zumindest im jüdischen Archiv?
“Für das 15. und 16. Jahrhundert ist die Quellenlage dünn, tendenziell würde ich die Formulierung in der Mitte des 16. Jahrhunderts aber eher nicht erwarten, eine bewusst[-]{bezieht sich ja auf “archaisch”, nicht auf die Formulierung – oder was wäre eine “unbewusste” Formulierung?} archaische Formulierung ist jedoch auch nicht auszuschließen.” –
Dieses Argument (nicht dein Ziel) finde ich nicht ganz schlüssig – die ganze Tafel stammt ja sowieso aus dem 19. Jh.!
Es geht also nicht darum, ob diese Formulierung zur vermutlichen Entstehungszeit des *ersten* Synagogenbaus passen würde. Man muss sich vielmehr die Frage stellen, warum man Ende des 19. Jh. noch auf eine solche – nunmehr tatsächlich bewusst archaische – Fomulierung *zurückgriff*.
Es erscheint mir sehr unwahrscheinlich, dass man Ende des 19. Jh. bei einer Bezugnahme auf das 16. Jh. den Willen gehabt hätte, so etwas zu schreiben. Es liegt viel näher, dass man auf eine Formulierung zurückgriff, welche die Zeitgenossen im 19. Jh. als typisch und gebührend empfanden, weil ihnen diese Formulierung schon aus bestimmten Epochen vertraut war. Das kann in diesem Zusammenhang also nur das 14. Jh. sein, dessen Sprachgebrauch man im 19. Jh. nachahmen wollte.
Und vielleicht hatten sie damals sogar noch Urkunden vom ersten Bau, in denen diese Formulierung bereits vorkam.
Was findest du da nicht schlüssig?
Die Sache mit dem 15. und 16. Jahrhundert hab ich angemerkt, nicht weil ich nicht weiß, dass die Tafel aus dem 19. Jahrhundert ist, sondern weil wir im Falle einer Spätdatierung, also 1550, fragen müssen, – und wenn nur der Vollständigkeit halber – ob damals die Formulierung “im 6. Jahrtausend” verwendet wurde, eher ja oder eher nein.
Denn immerhin können wir nicht ausschließen, dass die Schreiber im 19. Jahrhundert eine konkrete Vorlage in Form der alten Tafel oder ähnliches hatten und den Text übernahmen.
Und wenn du schreibst “Das kann in diesem Zusammenhang also nur das 14. Jh. sein …” dann weißt du eben mehr als ich aufgrund der dünnen Quellenlage eben nicht weiß.
Die von dir zitierten möglichen Urkunden vom ersten Bau könnten ja schließlich auch aus dem 16. Jahrhundert stammen, wenngleich ich es nicht glaube.
Du schreibst:
“Es geht also nicht darum, ob diese Formulierung zur vermutlichen Entstehungszeit des *ersten* Synagogenbaus passen würde. Man muss sich vielmehr die Frage stellen, warum man Ende des 19. Jh. noch auf eine solche – nunmehr tatsächlich bewusst archaische – Fomulierung *zurückgriff*.
Doch, es geht auch darum. Denn wenn sie Vorlagen hatten und zwar z.B. aus dem 16. Jahrhundert, Vorlagen, die sie wörtlich übernahmen für den ersten Teil der Gedenktafel (wohl mit Adaptierung des Anfangs), dann ist es durchaus nicht unerheblich, ob sie im 16. Jahrhundert die Formulierung verwendet haben könnten oder nicht.
Und “bewusste archaische Formulierung” meint überdies – völlig unabhängig vom Gesagten – dass wir auch nicht ausschließen können, dass die Formulierung im 19. Jahrhundert gewählt wird, aus welchen Gründen auch immer, auch ohne konkreten Bezug auf das 16. oder das 14. Jahrhundert.
Und jetzt auch mal rein optisch: Es ist eindeutig ein ד. Vgl. das ר, das sonstwo im Text kommt (eben ohne den “Rechtsbalken”, den wir im ד von קיד sehen), sowie der “Rechtsbalken” in den sonstigen Buchstaben.
absolut d’accord! Hab ich gemacht, mir als Karte im Talon aufgehoben ;)
ist doch schön, jetzt brauchen wir noch ein paar weitere Dokumente, die unsere Frühdatierung belegen ;)
My German is not perfect, therefore please excuse me if I did not understand correctly the comment.
When I was looking at the letters I could see that קיד (or whatever it is) all the letters have a left “uplift”. I could not compare the letters of the other words as I see all of them are written differently. The DALET in מחדש has no left “uplift”, the same as the RESH in the year 635 and all the other letters on the plaque.
But the difference between a ר and a ד does not depend on an upper left serif… As you say yourself: “all the letters”, not only the last one.
Do you see a “Rechtsbalken” on the DALET? If there is one it is the same as the “Rechtsbalken” on the HEY in הששי. It surely is not definitely a DALET, it can well be a RESH.
“(sprich: Lies die erste Jahreszahl (auch) als Wort, die zweite als bloße Jahreszahl)” – wenn schon, dann umgekehrt.
Yoav, warum? Meir argumentiert doch ursprünglich, die Punkte über den Buchstaben zu berücksichtigen, und darauf bezog sich ja mein Einwand.
Weil die Punkte – normalerweise – darauf hindeuten, dass eine Buchstabenfolge eben nicht als ein normales Wort zu lesen ist, sondern als eine Abkürzung/Zahl. Sollte man also das besagte Wort – trotz des vorausgehenden “שנת” – nicht nur als Jahresangabe lesen, so wäre da eben keine “Oberpunktierung” zu erwarten.
Will man in seiner Lesart von der Regel abweichen, so ist die Abweichung zu rechtfertigen, nicht die Regel.
ich habs geahnt, dass du diese Argumentation bringst ;) weil nämlich das auch der Grund war, warum ich Meirs Argumentation mindestens 20x lesen musste um sie richtig zu verstehen.
Aber was du als “normalerweise” bezeichnest, ist nicht mehr als die (blanke) Theorie, in der Praxis kümmert man sich kaum je drum!
@Yoav,
wenn ich deinen Satz richtig verstehe (ist nicht ganz leicht mit 3 Verneinungen), sollten also die Punkte über Buchstaben dann stehen, wenn die Buchstabenfolge als Zahl, nicht aber als Wort gelesen werden soll.
Ich hab oben schon geschrieben, dass das die Theorie sein mag, dass diese aber ganz sicher für Grabinschriften so gut wie gar nicht gilt (können wir auch nicht mit Buchseitennumerierungen vergleichen!)
Daher stimmt auch “normalerweise” keinesfalls, v.a. weil die Praxis anderes zeigt.
Warum in die Ferne schweifen, liegt das Gute doch so nah? ;)
Schon im Mittelalter, übrigens im Jahr 1346, also ganz nahe unseres bevorzugten Jahres in der gegenst. Inschrift, finden wir die Jahreszahl 107 nicht als קז geschrieben, sondern als ו”י”צ”א was uns selbstverständlich dazu zwingt, dies als Wort UND als Jahreszahl zu lesen … und ja, über jedem Buchstaben finden sich ganz deutlich Schwalben! ;)
@Yoav & Johannes. Sorry for the delay and coming back to an old discussion.
All the GIMATRIOT mentioned are correct, but do they “say” something about the Plaque?
This stone Plaque was put on the outer wall of the Synagogue. If we read on that stone קיר we might have an association to “(אבן מקיר תזעק” (חבקוק ב’, י”א”
קרי? wenn schon, dann שי …
nein, warum?
Warum?
Weil קרי eine Unzahl ist, genauso wie z. B. כי”א (für 31).
Sicherlich gibt es ab und zu auch Ausnahmen von den Regeln, doch nicht, sofern es sich um eine ganz einfache, ja einfältige Jahreszahlangabe geht. Rein gimmatrisch/gematrisch gesehen, ergibt hier also nur die Lesart קיד Sinn.
Das gilt natürlich auch für קיר – ebenfalls eine gimmatrische Unzahl
Was die Lesung קיד betrifft, sind wir uns ja absolut einig, klar.
Und es behauptet ja niemand, dass קרי der Weisheit letzter Schluss wäre (ich glaubs ja selbst nicht), aber wenn schon eine Spätdatierung, dann eben eventuell eher קרי als קיר und auch nur dann, wenn wir davon ausgehen, dass die Schreiber eben bewusst die Buchstaben ק י und ? wählen und eben nicht שי oder andere Lösungen bevorzugen wollten. Unzahl hin oder her, קרי ist allemal einen Hauch wahrscheinlicher als קיר wenn man schon eine Spätdatierung “erzwingen” wollte …
Und Ausnahmen würden mich in Mattersdorf keineswegs überraschen.
“קרי ist allemal einen Hauch wahrscheinlicher als קיר wenn man schon eine Spätdatierung “erzwingen” wollte …” –
Wieso eigentlich? Sowohl קרי als auch קיר werden erst dann möglich, wenn wir davon ausgehen, dass hier nicht nur eine bloße Jahreszahl angegeben, sondern auch gleich noch eine Bedeutung mit vermittelt wird.
“Und Ausnahmen würden mich in Mattersdorf keineswegs überraschen.” –
Kein Problem (s. o.), aber in diesem Fall haben wir sowieso nichts mehr mit den strengen Regeln der einfachen Gematrie zu tun, also ist alles möglich. Vgl. auch die hebräische Schreibweise des Jahres 5744 (interessanterweise 1984 bzw. Orwell…)
Da kann קרי vielleicht eine bessere Möglichkeit sein als קיר, doch sicher nicht wegen der gimmatrischen Regeln, die קרי selber nicht befolgt…
“Unzahl hin oder her” – Du musst mir nicht “glauben”… Du kannst ja auch jedes Buch aufschlagen, das mehr als 310 nummerierte Seiten umfasst und dessen Seiten eben mit hebräischen Zahlen nummeriert sind – die Kombination קרי für 310 findest du nirgends.
Nein, ich bestreite das ja gar nicht! Ich habe auch aus primär inhaltlichen und nicht aus gematrischen Gründen für קרי statt für קיר plädiert (obwohl ich selbst beides nicht lesen will, aber eben weil ich Meir so verstanden habe, dass er ein Wort lesen möchte aufgrund der Punkte oben) … und es ist doch vollkommen müßig, über den Grad der Befolgung – oder besser wohl – Nichtbefolgung – der einfachen gematrischen Regeln zu streiten, selbst wenn da קרי gegen קיר vielleicht doch gewinnen würde ;)
Ich zwing dich zu gar nichts, und nein, ich habe in erster Linie aus inhaltlichen Argumenten für קרי plädiert, und wie ich schon schrieb, ja, ich glaube, dass – als Zusatz – auch die gematrische Argumentation einen Hauch vorn ist, das ist alles.
@ Johannes
I cannot believe that you are suggesting קרי as a count for a year. Yoav already wrote that the year תשמד was changed for תשדמ because of its connotation.
Who on earth would call a year קרי. Do you know its meaning? It is as you say a “sinnvolleren Wort”, but I am sure that you would agree that it is not suitable for a Synagogue.
I will not put it in writing on the blog but you can look it up in the Babylonian Talmud מנחות פח ע”א
@Meir,
in fact, I don’t read קיר and I don’t read קרי – I prefere reading קיד !
In מנחות פח א we only find קרינא – as far as I see – and in מנחות פח ב we find קרי in the meaning I know from grave inscriptions: קרי ותני etc.
Thank you Johannes for bringing us the writings about this topic and your argumentation.
You write about קיר : “warum dann nicht gleich mit dem im Kontext sinnvolleren Wort “KRI” קרי “Lesung”? Außerdem hätte man damit nicht nur ein sinnvolleres Wort, sondern auch die Zahlenwerte der Buchstaben in ihrer gewohnten Reihenfolge”. If the order of the letters are important (and it really is קיר) then it should be יקר (quite a nice word), or שי which is shorter.
If we agree that the Mattersdorf Jewish community was founded by Schischa (the six Levy expelled from Spain) than קיד is too early. Even if there were Jews in Mattersdorf, were they so many to form a community? Could they afford to build a Synagogue in 1354?
Just another hypothesis: The ground stone for the Synagogue was put down in 1354 (although the plaque says נבנה), and the Synagogue was built in a later date.
About the writing on the wall (ceiling) of עד כי יבא שילה. I did not see that writing. Has anyone got a photo of it?
Writers about Mattersdorf mention it, but no one says that there is a caption to it. Is there a connection to the date of the building of the Synagogue? Probably not. Just a date on the ceiling. I like your question: “Warum mussten sich die beiden Kuppelinschriftsinspizienten eigentlich hinaufseilen lassen, war die Inschrift so klein geschrieben? “. The writing was so small that nobody standing in the Synagogue could read it. If it would have been a significant date it would not be “hidden” but written in OTIOT KIDUSH LEVANA (large letters).
What I think is that that date was put there by the painter of the Synagogue, who painted the different decorations and writings on the walls. I do not think it has anything to do with the date that the Synagogue was built.
Just a writing on the ceiling.
Dear Meir,
why קרי and not יקר: because when we write קרי we have the correct order of the numerical values (Hunderterzahlen, Zehnerzahl), not so if we write יקר.
And if you write שי there would probably be the association “gift” (biblical). So, I think, they intended that we can not read a meaningful word but we must read only a date!? Did they put the points over the letters that we DON’T read it as a word but only as a date?
I like your hypothesis that the ground stone was put down in 1354 and the synagoge was built later! Yes, maybe :)
So, we don’t know enough about Rabbi Abraham Klausner (grand-grandpa of Almos Oz), but he could too be an advice for a jewish community in the Middle ages. And then a synagogue built in 1354 wouldn’t be to early.
I don’t know a photo of the inscription on the wall. I agree with your explanation!
Really fascinating :)
“the correct order of the numerical values (Hunderterzahlen, Zehnerzahl)”
– das wäre, theoretischerweise, רקי, weil 200+100+10, oder eben 300+10, was zumindest gimmatrisch korrekt wäre und worauf, wie ich jetzt sehe, auch Meir schon hingewiesen hat.
Vom Gimmatrischen her ergibt also nur deine Lesart, Johannes, Sinn: קיד
Mit großem Interesse verfolge ich diese historischen Spurenleseversuche – langsam habe ich den EIndruck, das wäre eine spannende Doku, ein Film, ein Video, das
die enorme Arbeit zeigt/begleitet, die dahinter steckt und die vielen Gedankenketten, die entstehen – bezweifelt werden und wieder neu zusammengesetzt.
Denkt Ihr auch an so etwas?
Danke und weiterhin viel Kraft und Erfolg
E.P.
Hallo Elise,
vielen Dank für deinen schönen Kommentar, du triffst den Nagel auf den Kopf! So unscheinbar diese 3 Buchstaben auf den ersten Blick zu sein scheinen, die vergangenen Tage waren für mich/uns wirklich unglaublich spannend. Ständig gabs neue Erkenntnisse, Überlegungen, trotz Fortschritten neue offene Fragen und Theorien …
Es gibt noch so unendlich viele weiße Flecken in der Geschichte der Juden, aber vor allem auch in der jüdischen Geschichte dieses so kleinen Bundeslandes hier …
Zu deiner Frage: Überlegenswerte Idee :) nein, über das Ergebnis der Recherchen und Analysen hinaus hab ich noch nicht gedacht …
danke für die Wünsche und liebe Grüße aus Pannonien,
Johannes