Bilderverbot, Torastudium und ein Straßenräuber

Bilderverbot, Torastudium und ein Straßenräuber

Dieser Artikel war ursprünglich die 4. Podcastfolge, die ich während meiner Zeit im Österreichischen Jüdischen Museum in Eisenstadt am 1. Juli 2020 publizierte. Die Podcastreihe “Koscher Schmus” wird auf “Der Transkribierer” nicht fortgeführt, die von mir erstellten Podcasts werden jedoch als Artikel zur Verfügung gestellt.


Es geht um eine Frage, die mir vor etwa 35 Jahren im Museum gestellt wurde und die ich bis heute nicht vergessen habe. Wir zeigten damals in einer Schwerpunktausstellung die biblischen Szenen, die 1932 in der Synagoge von Dura Europos entdeckt wurden. Dura Europos ist eine antike Stadt im Osten von Syrien, alle 4 Wände der Synagoge zeigten Szenen, deren Vorlagen wir in der hebräischen Bibel finden. Datiert werden die Malereien auf das Jahr 244/45, 11 Jahre später, 256, wurde die Synagoge schon zerstört.

Diese einzigartigen Malereien versuchte ich also einmal den Schülerinnen und Schülern einer jüdischen Schule von Wien ein wenig nahezubringen, als mich eine ca. 11jährige Schülerin unterbrach und doch vorwurfsvoll fragte:

Wollen Sie damit sagen, dass unsere Väter gesündigt haben?

Eine gute und naheliegende Frage, denn selbstverständlich bezog sich das Mädchen auf das sogenannte Bilderverbot im 2. Buch Mose, Kapitel 20, Vers 4, wo es heißt:

Du sollst dir kein Schnitzbild machen, noch irgendein Abbild von dem, was droben im Himmel oder auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde ist.

Dieses Gebot wurde von Juden oft als Anweisung zur grundsätzlichen Ablehnung jeder abbildenden Kunst verstanden und immer wieder diskutiert. Jedenfalls haben wir viele Berichte, die beweisen, dass sich die rabbinischen Gelehrten im 3. Jahrhundert nach der Zeitrechnung nicht mehr gegen Bilder und Abbildungen durchsetzen konnten.

Die Bestätigung dafür schlechthin finden wir im palästinischen Talmud, Traktat Avoda sara III,3, wo es heißt:

In den Tagen des Rabbi Jochanan fing man an, die Wände zu bemalen, und er hinderte es nicht.

Das Mädchen, das die Frage gestellt hat, war mit dieser Antwort vollkommen zufrieden und offensichtlich erleichtert. Sie wusste, dass Gottes Offenbarung am Sinai nicht nur die schriftliche Tora, sondern auch die mündliche umfasste. Also die gesamte mündlich überlieferte Auslegung, die die schriftliche Tora aktualisiert und jeweils auf die neuen und verschiedenen Lebenssituationen anpasste. Die Erlaubnis von Rabbi Jochanan, dass gemalt werden darf, also autoritativ war.

Mit Rabbi Jochanan ist Rabbi Jochanan bar Nappacha gemeint. “Nappacha” heißt wörtlich “Schmied”, also Jochanan, der Sohn des Schmiedes. Er lehrte anfangs in Sepphoris, wo er auch geboren wurde, später in Tiberias. Zweifelsohne reichte seine Lehrautorität weit über die Grenzen Palästinas hinaus.

Von sich selbst soll er gesagt haben:

Ich bin der einzige, der von den Jerusalemer Männern mit herausragender Schönheit geblieben ist.

Rabbi Jochanan soll oft an den Toren des Ritualbades gesessen haben. Wenn die Töchter Israels vom Bad heraufstiegen, sagt er:

Lasst sie auf mich schauen, damit sie Söhne haben, die ebenso schön und gelehrt sind wie ich.

Sein wohl bekanntester Zeitgenosse war Simeon ben Laqish, gewöhnlich Resch Laqisch genannt. Eines Tages badete Rabbi Jochanan im Jordan, als Resch Laqisch vorbeikam, der seinen Lebensunterhalt als Straßenräuber bestritt und von Rabbi Jochanans Schönheit so angetan war, dass er über den Jordan sprang, um Jochanan besser zu sehen. Dieser war wiederum von der übermenschlichen Kraft des Resch Laqisch so angetan, dass er ihm vorschlug seine Kraft für das Torastudium zu verwenden. Resch Laqisch antwortete ihm:

und deine Schönheit solltest du den Frauen widmen.

Jochanan versprach ihm seine Schwester, die noch schöner als er selbst ist, als Ehefrau, wenn Resch Laqisch zurückkomme um mit ihm Tora zu studieren.

Als Resch Laqisch dem Torastudium zugestimmt hatte, verlor er seine übermenschliche Körperkraft von einer Minute auf die andere und konnte nicht mehr über den Jordan zurückspringen, um alle seine Sachen zu holen. Einige Jahre später, als die beiden über den halachischen, also religionsgesetzlichen Stellenwert von Waffen wie Schwert, Messer, Dolch, Lanze usw. diskutierten, waren sie sich in der Beurteilung uneins und Jochanan bar Nappacha erinnerte seinen Kollegen an seinen früheren Beruf als Straßenräuber. Worüber Resch Laqisch so aus der Fassung gebracht wurde, dass er vor lauter Bedrücktheit schließlich um 275 im Alter von 75 Jahren starb. Rabbi Jochanan wiederum war auch schwer bedrückt, weniger weil er den Tod seine Freundes verursacht hatte, sondern weil er nicht wusste, wie er ohne einen so herausfordernden Studienpartner wie Resch Laqisch Tora lernen solle. Und er wurde immer schwächer und starb schließlich auch, im Jahre 279, also 13 Jahre nach der Zerstörung der Synagoge von Dura Europos.


Stemberger Günter: Einleitung in Talmud und Midrasch, C.H.Beck, 8., neu bearbeitete Auflage, München 1992, S. 44ff, 93.

JOHANAN BEN NAPPAḤA (Jewish Virtual Library).

Synagoge von Dura Europos (Wikipedia).

Wasserstein Abraham, ריש לקיש בין הליסטים. A Good Man Fallen Among Robbers, in Tarbiẕ 1979/80, Heft 1/2, Band 49, S. 197f / תרביץ תשרי-אדר תש”ם, חרברת א/ב, כרך מט, המכון למדעי היהודות ע”ש מגדל
Published By: Mandel Institute for Jewish Studies

 

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