Dieser Artikel war ursprünglich die 5. Podcastfolge, die ich während meiner Zeit im Österreichischen Jüdischen Museum in Eisenstadt am 20. Juli 2020 publizierte. Die Podcastreihe “Koscher Schmus” wird auf “Der Transkribierer” nicht fortgeführt, die von mir erstellten Podcasts werden jedoch als Artikel zur Verfügung gestellt.
Heute geht es um eine Frage, die mir erst vor wenigen Wochen an einem Gesprächsabend im Museum gestellt wurde. Thema waren die hebräische Bibel und die rabbinische Literatur. Selbstverständlich kamen wir dabei auch auf den bekanntesten jüdischen Bibel- und Talmudkommentator zu sprechen, Rabbi Schlomo ben Jitzchaq, der meist schlicht Raschi genannt wird. RASCHI ist ein sogenanntes Acronym, also ein aus den Anfangsbuchstaben seines Namens „Rabbi Schlomo ben Jitzchaq„ gebildetes Kurzwort: RASCHI. Auf die Frage, die mir an diesem Juniabend gestellt wurde, komme ich ein wenig später, vorher noch ein paar Worte zu dem großen Gelehrten:
Raschi wurde in Troyes, Nordostfrankreich, im jüdischen Jahr 4.800, also nach bürgerlicher Zeitrechnung im Jahr 1040 geboren, das meist als jenes Jahr gilt, in dem Rabbenu Gerschom MEOR HAGOLA (unser Lehrer Gerschom, Licht der Diaspora), einer der einflussreichsten Gelehrten des Abendlandes starb. Auf Rabbi Gerschom gehen unter anderem die Erlässe zurück, dass die Polygamie verboten ist und dass bei einer Scheidung beide Ehepartner einwilligen müssen, sich also der Ehemann nicht mehr ohne Zustimmung seiner Ehefrau von ihr scheiden lassen kann. Raschi starb am 29. Tamus 4.865, nach bürgerlicher Zeitrechnung im Jahr 1105, am heutigen Tag, vor genau 915 Jahren.
Raschi lernte bis zu seinem ungefähr 20. Lebensjahr bei seinem Vater und seinem Onkel, danach bei den Weisen Lothringens, den Schülern von Rabbi Gerschom in Worms und in Mainz. Die Lehrer lobten seinen Fleiß, sein Wissen und seinen scharfen Verstand, Raschi, jung verheiratet, schreibt
Ja, es fehlt uns an Speise und Kleidung.
In Worms erinnern sowohl das als Bet ha Midrasch (Lehrhaus) bezeichnete Haus im Anbau an die Synagoge als auch der Lehrstuhl, der als jener Raschis gezeigt wird, an den großen Gelehrten, stammen jedoch beide aus dem 16. Jahrhundert.
Nach etwa 5 Jahren, im Jahr 1064/65, mit ungefähr 25 Jahren, kehrte Raschi in seine Heimatstadt Troyes, zu Frau und Familie zurück, eröffnet eine Jeschiwa, also eine Schule zum Studium der Tora und des Talmud, in die sehr bald viele Schüler, besonders aus Deutschland und Frankreich strömten.
Dennoch zog Raschi aus seiner Studien- und Lehrtätigkeit nie materiellen Gewinn, sondern lebte vom Weinbau- und -verkauf. Er folgte damit dem rabbinischen Grundsatz, dass man die Tora nicht als Spaten verwenden soll, um damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber auch nicht als Krone, um im sozialen Ansehen zu steigen, wie wir in den Pirqe Avot, den Sprüchen der Väter 4,7 lesen.
הָא לָמַדְתָּ, כָּל הַנֶּהֱנֶה מִדִּבְרֵי תוֹרָה, נוֹטֵל חַיָּיו מִן הָעוֹלָם:
Somit lernst du: Wer von den Worten der Tora Nutzen zieht, der nimmt sein Leben fort aus der Welt.
Raschi kommentierte die meisten Bücher der hebräischen Bibel (nur die beiden Bücher der Chronik fehlen), sein Kommentar zu den 5 Büchern Mose wird so häufig zitiert, dass man oft schwer unterscheiden kann, ob ein Zitat biblisch ist oder aus dem Raschi-Kommentar stammt. Auf Hebräisch spricht man vom “Chumasch-Kommentar”. Mit Chumasch (vom hebräischen Wort chamesch für 5) bezeichnet man die Tora in gedruckter Buchform im Gegensatz zur Schriftrolle / Torarolle.
Welchen Eindruck Raschis Chumasch-Kommentar machte, erkennt man etwa daran, dass er als “Rabban schel Israel” (der Großlehrer Israels) bezeichnet wird, für das auch RASCHI als Acronym steht. Ein Jude, so heißt es, der Chumasch mit Raschi gelernt hat, kann nicht mehr als “Am Haarez”, als Unwissender bezeichnet werden!
Der ungefähr 50 Jahre jüngere spanische Gelehrte und Schriftsteller Abraham ibn Esra, der zu den Vorreitern einer wissenschaftlichen biblischen Exegese, also einer wissenschaftlichen Bibelauslegung, gehört, schrieb über Raschi:
Licht aller Blinden,
jeden, den es dürstet
trinkt von seinem süßen Most.
Einen großen Kommentar
Schrieb er zur Tora.
Daher man ihn nannte:
Parschandata (Erklärer der Religion).
Sein Buch löst alle Fragen,
und in Israel
wird er von allen verlangt.
Raschi kommentierte aber nicht nur die meisten Bücher der hebräischen Bibel, sondern auch die meisten Traktate des babylonischen Talmud. Sein Talmudkommentar ist noch bedeutender als sein Kommentar der hebräischen Bibel. Raschi klare und verständliche Sprache machte den Talmud auch für Nicht-Gelehrte verständlich. Beide Kommentare, sowohl Bibel- als auch Talmudkommentar, erlangten enormen Einfluss und wurden bald in allen Standardausgaben der Bibel bzw. des Talmud abgedruckt. Die Raschi-Kommentare werden in den gedruckten Ausgaben von Bibel und Talmud mit einer eigenen Schrift, einer Halbkursive, abgedruckt, die meist „Raschi-Schrift“, manchmal auch „rabbinische Schrift“ genannt wird. Freilich eine erst lang nach Raschi entstandene Bezeichnung, denn Raschi selbst hatte nicht in dieser Halbkursive geschrieben. Erstmals verwendet wurde diese Schrift erst in einer 1475 in Italien gedruckten Ausgabe des Raschikommentars. Bis zum heutigen Tag findet sich in gedruckten Ausgaben von Bibel- und Talmud, in denen Bibel- oder Talmudtext und der rabbinische Kommentar auf einer Seite dargestellt werden, der rabbinische Kommentar in Raschischrift, vor allem auch zur Unterscheidung zwischen Primär- und Kommentartext.
Über das Privatleben Raschis wissen wir wenig, er hatte keine Söhne, aber 3 Töchter Jochewed, Mirjam und Rachel, die, nicht nur selbst außerordentlich gelehrt, auch alle mit herausragenden Gelehrten verheiratet waren. Besonders erwähnenswert ist wohl seine Tochter Jochewed, die Rabbi Meir ben Samuel heiratete und mit ihm 3 berühmte Söhne hatte: Samuel ben Meir, Isak ben Meir und Jakob ben Meir.
Rabbi Meir ben Samuel, der Schwiegersohn von Raschi, war einer der Gründer der Schule der sogenannten Tosafisten in Nordfrankreich. „Tosafisten“ bedeutet etwa „Ergänzer“ und gemeint ist jene Gelehrtenschule, in der Sammlungen von Erläuterungen und Zusätzen zu frühen Talmudkommentaren, besonders zum Raschikommentar verfasst wurden (die sogenannten „Tosafot“), die in allen gedruckten Talmudausgaben am äußersten Rand abgedruckt werden. Die prominentesten Vertreter dieser Tosafisten in Frankreich sowie im Rheinland waren die Schüler und Nachkommen Raschis, allen voran die erwähnten Enkel Samuel, Isak und Jakob.
Und damit sind wir auch bei der eingangs erwähnten Frage, die mir an diesem Juniabend vor einigen Wochen gestellt wurde: ob es nämlich je jemand wagte, den großen Kommentator Raschi zu kritisieren oder ihm gar zu widersprechen…? Wir ahnen die Antwort. Selbstverständlich! Besonders die Tosafisten, seine Enkel und Urenkel widersprachen ihm bisweilen sehr vehement. Zu nennen wäre etwa sein Enkel Jakob, der als Rabbenu Tam (unser Lehrer Tam) als der größte der Tosafisten gilt! Der Zusatz „Tam“ bedeutet „perfekt“, die Eigenschaft, mit der Jakob, der Sohn Isaks und Enkel Abrahams, im 1. Buch Mose, Kapitel 25, Vers 27 bezeichnet wird. Rabbenu Tam war von Beruf Händler, befasste sich sowohl mit hebräischer Grammatik als auch mit hebräischer Dichtung und verfasste einige halachische, also religionsgesetzliche Bücher. Es gibt fast keine Seite im Talmud ohne die kommentierenden Bemerkungen des Rabbenu Tam! Sein enzyklopädisches Wissen war so sprichwörtlich, dass ein zeitgenössischer Weiser einmal anmerkte, dass es fraglich sei, ob man sich in Sachen Halacha nach Rabbenu Tam richten solle, denn #
sein Herz ist das eines Löwen, und wir wissen nie, ob er seinen Kommentar tatsächlich als halachisch verbindlich ansieht oder ob er in ihm nur seine Geistesschärfe zeigen will. Wir jedenfalls können ihn nicht widerlegen.
Und es war dieser Rabbenu Tam, der ‒ zum Beispiel ‒ für die 4 Toraabschnitte, die in die Ledergehäuse der Tefillin, der Gebetsriemen, gesteckt werden, eine andere Reihenfolge festlegte als es Raschi tat.
Immer wieder werden Raschis pädagogische Fähigkeiten, seine Präzision in den Gedankengängen, seine Zuvorkommenheit, seine Verständlichkeit und seine Bescheidenheit über alle Maßen gelobt. Das Bekenntnis zur Wahrheit war das große Ziel in Raschis Lebenswerk. Für mich immer unendlich faszinierend sein bescheidenes und wahrheitsliebendes
Eneni jode’a
Ich weiß es nicht
im Sinne von
Ich weiß nicht, was uns das lehren will,
wenn er den Sinn des Bibeltextes nicht erkennen konnte. Zum Beispiel im 1. Buch Mose Kapitel 28, Vers 5, wo es heißt:
Isaak entließ Jakob und er zog nach Paddan-Aram zu Laban, dem Sohn des Aramäers Betuël, dem Bruder Rebekkas, der Mutter Jakobs und Esaus.
Und bei „der Mutter Jakobs und Esaus“ merkt Raschi eben an:
Eneni jode’a
Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was uns das lehren will
Bamberger Selig, רש”י על התורה Raschis Pentateuchkommentar, Basel 1994, VII-IXX, 84.
Maier Johann, Schäfer Peter, Kleines Lexikon des Judentums, Stuttgart 1981, 265.
Petzold Kay Joe, Masora und Exegese: Untersuchungen zur Masora und Bibeltextüberlieferung im Kommentar des R. Schlomo ben Yitzchaq (Raschi).
Steinsaltz Adin, Talmud für Jedermann: Eine Einführung, 1998, 88ff.
Rashi’s Commentary on the Pentateuch. Reggio di Calabria: Abraham ben Garton, [18 February1475]