Grabstein Mittelalter V

Grabstein Mittelalter V

Rachel, Tochter des Zvi Hirsch, 03. Marcheschvan (5)445 = (Mittwoch,) 12. Oktober 1684?

Dieser Grabstein ist der fünfte von links der Installation der fünf mittelalterlichen Grabsteine am jüdischen Friedhof Wiener Neustadt.

Untenstehend zwei Fotos des Grabsteines mit unterschiedlichen Qualitäten (auch zu unterschiedlichen Zeiten aufgenommen), um eine möglichst korrekte Lesung der Inschrift zu ermöglichen.
Der Grabstein war wahrscheinlich ein Doppelgrabstein. Die linke Hälfte, von der nur mehr ein kleiner Rest vorhanden ist, wird unten im Anschluss an die rechte Hälfte transkribiert (und übersetzt).

  • 5. Grabstein (von links) der Installation mittelalterlicher jüdischer Grabsteine am jüdischen Friedhof Wiener Neustadt
  • 5. Grabstein (von links) der Installation mittelalterlicher jüdischer Grabsteine am jüdischen Friedhof Wiener Neustadt
 

Die Grabinschrift

Rechte Hälfte des Grabsteins:

Inschrift MittelalterV: Zeilengerechte Transkription und Übersetzung
[1] [Ihre See]le? ging hinweg [נפש]ה יצתה
[2] Frau? Rachel N.N. [.]מר רחל במו[ד]
[3] Tochter? d(es Herrn) Z(vi) H(irsch)?, Gatti(n) des? בת ר צה רעיית[ו]
[4] e(hrbaren) H(errn) Chaj(im)? Dieses ist חי ה וזאת
[5] ihr Grabm(al). [מ]צבת קבורתה
[6] (Sie verstarb am) 3.? Marcheschvan 445? (= 1684) [ג] מרחשון מתה
[7] [I(hre)] S(eele) m(öge eingebunden sein) i(m Bund) d(es Lebens). A(men), A(men), S(ela) [ת]נצבה א א ס

Linke Hälfte des Grabsteins:

Inschrift MittelalterVL: Zeilengerechte Transkription und Übersetzung
[1] Das Leben …? חיית
[2] Spross צמח
[3] er unterstützte? וירפד
[4] im/bei Mensch(en)? באד[מ]
[5] nach?/fremden? אחר
[6] S([eine Seele möge eingebunden sein im Bund des Lebens)]? [ת]נצבה
[7] A[men]? א[מן]
 

Anmerkungen

Die Inschrift bzw. beide Inschriften sind sehr schlecht zu lesen, sowohl Transkription als auch der Übersetzungsversuch (inklusive Datierung) sind mit vielen Fragezeichen zu versehen.

Rechte Hälfte des Grabsteins:

2. Zeile:
Das מר (könnte auch מת sein) ist unsicher, demzufolge auch der Vorname Rachel. Das letzte Wort der Zeile könnte ein zweiter Vorname sein? Oder בת מורנו “Tochter unseres Lehrers”? Dann sollte danach allerdings der Name des Vaters stehen. Wenn am Beginn der Zeile מת gelesen wird, sollte nachher der Name eines Mannes stehen, also “Herr Ch(ajim)? N.”? Jedenfalls müssten dann in beiden Fällen die 3. und 4. Zeile anders gelesen werden als oben vorgeschlagen.

3. und 4. Zeile:
Auf den ersten Blick könnte תרצה, Tirza, als ein weiblicher hebräischer Vorname, gelesen werden. Mit dem vorangestellten ב könnte etwa “Tochter der Tirza” übersetzt werden? Allerdings wäre der Name der Mutter an dieser Stelle in der Inschrift eher ungewöhnlich.
Oben bevorzugt wurde “Tochter des Herrn Zvi Hirsch”, was jedoch voraussetzt, dass beide Namen des Vaters der Verstorbenen abgekürzt angegeben wären. Sowohl dafür als auch für das letzte Wort der Zeile “Gattin”, hebräisch רעייה, fehlen mir Belege, die diese Lesung bestätigen könnten. Insbesondere, weil auch die Datierung des Steins sehr unsicher ist. Außerdem ist unklar, was am Beginn der 4. Zeile steht. Es sollte, wenn vorher “Gattin des” gelesen wird, der Name des Gatten stehen.

6. Zeile:
Die Lesung des Monatsnamen “Marcheschvan” (Oktober/November) ist naheliegend, davor könnte das Datum stehen. Das ג, also “3.” ist nicht eindeutig zu lesen, es kommen selbstverständlich auch יג, כג o.Ä. (also “13.”, “23. o.Ä.) in Frage. Platz hätten jedenfalls ein ב + ג oder auch ב + יג etc., also “am 3., 13. …”.
Das letzte Wort dieser Zeile sieht wie מתת aus, was aber weder als Wort gelesen einen Sinn ergibt (Geschenk?) noch als Jahreszahl (Zahlenwert 840). Stimmt die Lesung der Wörter davor, ist an dieser Stelle die Jahreszahl zu erwarten.
Oben vorgeschlagen wurde die Lesung מתה (“sie verstarb”) und, dass der Zahlenwert des hebräischen Wortes (445) zur Angabe des Sterbejahres dient.

Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass auch gelesen werden könnte: מדד, מדה oder מהד – was die Zahlenwerte 48 oder 49 (1288 oder 1289) ergeben würde. Da der Monat Marcheschvan im Herbst liegt, würde das Sterbejahr 1287 oder 1288 sein. Eine Frühdatierung dieses Grabsteins ins Ende des 13. Jahrhunderts halte ich aber schon aus sprachlichen Gründen für eher unwahrscheinlich.
Ebenso gelesen werden könnte מרר, מרד oder מדר, was die Zahlenwerte 244 bzw. 440 ergeben würde. Das wären umgerechnet die Jahre 1484 bzw. 1680, wegen des Herbstmonats also 1483 bzw. 1679. Da die Buchstaben aber als Wort gelesen, zumindest im Kontext, kaum oder keinen Sinn machen, ist nicht erklärlich, warum bei der Angabe der Jahreszahl nicht mit der Hunderterzahl, in diesem Fall also mit dem ר, begonnen wird (200). Als Wort gelesen werden müsste מרר “bitter”, also der “bittere Marcheschvan” (weil kein Feiertag in diesem Monat).

Linke Hälfte des Grabsteins:

Ausführlichere Anmerkungen zur Inschrift auf der linken Hälfte des Grabsteins sind müßig, da jede Zeile mit Fragezeichen zu versehen ist.
Es kann nicht einmal mit Sicherheit gesagt werden, ob es sich beim Verstorbenen tatsächlich um einen Mann handelt.

1. und 3. Zeile:
In der 1. Zeile wird ein Substantiv bevorzugt, weil die Lesung als Verb, 2. Person “du lebtest” einen doch unwahrscheinlichen Wechsel der Person – in der 3. Zeile: “er” – zur Folge hätte.

Wenig erfreuliche Schlussbemerkung:
Die Jahreszahl 1483 würde – rein historisch gesehen – Sinn machen, weil die jüdische Gemeinde Wiener Neustadt bis 1496 bestand. Da es im 17. Jahrhundert weder Gemeinde noch Friedhof gab, passt die Datierung nicht zu den vorhandenen historischen Belegen. Sozusagen leider, weil der Textbefund (meines Erachtens) doch eher 1684 nahelegt. Das Problem der historischen Dissonanz kennen wir auch schon vom Grabstein IV.
Das umgerechnete Datum für 1483 wäre Samstag, 13. Oktober 1483. Allerdings ist auch die Jahreszahl 1483, genausowenig wie 1679 und 1684, in der Literatur ausgewiesen.

Ich sage Frau Dr. Tirza Lemberger herzlichen Dank, dass sie sich Zeit genommen hat, mich bei der Lesung dieser Inschrift zu unterstützen!

 

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