… am Sinai und übergab sie Josua, Josua (übergab sie) den Ältesten, die Ältesten (übergaben sie) den Propheten, und die Propheten (übergaben sie) den Männern der großen Versammlung.
משה קבל תורה מסיני, ומסרה ליהושע, ויהושע לזקנים, וזקנים לנביאים, ונביאים מסרוה לאנשי כנסת הגדולה.
Mit diesem Satz beginnt der wohl bekannteste Traktat der Mischna: die “Sprüche der Väter” (hebr.: פרקי אבות “Pirke Avot”) oder einfach “Avot”, “Väter”.
Das Fest Schawu’ot hat viele Namen, darunter auch חג מתן תורה “Fest der Toragebung”, der Tag, an dem Gott dem Volk Israel die Tora gegeben hat, der Tag, an dem Israel die 10 Gebote erhielt.
Die Illustration des Wortes “Mose”, also des 1. Wortes der Sprüche der Väter am Titelblatt in dem Machsor aus Ulm/Udine aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, zeigt eine schöne Möglichkeit, das Motiv der Gesetzgebung ikonografisch zu verwerten.
Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern unserer Koscheren Melange ein fröhliches Schawu’ot!
חג שבועות שמח!
Kleiner Exkurs zum Traktat “Sprüche der Väter”:
Der Traktat “Pirke Avot” (wörtlich “Abschnitte, Kapitel/Sprüche der Väter”) enthält die Traditionskette von Mose bis zum Ende der tannaitischen Zeit, also die vier Generationen der rabbinischen Gelehrten von Hillel und seinem Gegenspieler Schammai bis Jehuda ha-Nasi (“Rabbi”), gest. um 217, weiters vor allem die ethischen Grundsätze sowie moralische Betrachtungen vieler bedeutender Rabbinen.
Avot hat 5 Kapitel, erst in späterer Zeit kam das Kapitel 6 dazu, die Lobrede auf das Gesetz (קנין תורה “Kinjan Tora”, “Erwerb der Tora”), das aber nicht zur Mischna gehört. Kapitel 6 sollte den sechsten der Schabbatnachmittage zwischen Pesach und Schawu’ot, an denen traditionell Avot gelesen wird, ausfüllen.
Möglicherweise bildete der spät in die Mischna aufgenommene Traktat Avot einst den Abschluss der Mischna, da die heute als 4. Ordnung geführte Ordnung “Nezikin” (Beschädigungen), in der Avot an 9. Stelle zu finden ist, damals am Ende des Werkes stand.
Mit den im eingangs zitierten ersten Satz von Avot genannten “Ältesten” sind die Führer Israels, die Josua überlebten, gemeint, siehe Richter 2,7: “Und das Volk diente dem Herrn, solange Josua lebte und solange die Ältesten am Leben waren, die Josua überlebten…”.
Die ebenfalls genannten “Propheten” umfassen auch Männer wie die Richter oder Samuel. In der hebräischen Bibel gehören die Bücher Josua, Richter, 1 und 2 Samuel, 1 und 2 Könige zu den Prophetenbüchern als die sogenannten früheren Propheten, während die Propheten nach dem christlichen Sprachgebrauch (also Jesaja, Jeremia, Ezechiel und die 12 “kleinen” Propheten) die sogenannten späteren Propheten sind.
Die “Männer der großen Versammlung” oder “Männer der Großen Synagoge” sind eine historische Fiktion und verbinden die Führer Israels von Esra und Nehemia, also das Führungsgremium Israels in der Perserzeit bis in die Zeit Alexanders des Großen (323 v.d.Z.). Sie verbinden also die Zeit der Propheten mit der Bewegung der Pharisäer (deren erster Vertreter um 300 v.d. Z. Simon der Gerechte war, der laut rabbinischer Tradition, z.B. Leviticus Rabba 13,5, auf Alexander den Großen traf).
Die “Sprüche der Väter” sind der einzige nichtgesetzliche Traktat der Mischna, er ist also rein haggadisch.
Das Wort “Haggada” kommt von hebräischen להגיד “lehaggid”, “erzählen”, “sagen”, die Haggada umfasst die nichtgesetzliche Bibelauslegung genauso wie erbauliche Erzählungen, profanes Wissen, Anekdoten, Sagen, Märchen, Fabeln usw. Haggada ist in der rabbinischen Tradition alles, was nicht Halacha ist (Halacha kommt von הלך “halach”, “gehen” und bezeichnet die Regeln für den Lebensweg, im weitesten Sinn das religiöse Gesetz).
Sowohl im palästinischen als auch im babylonischen Talmud fehlt der Traktat Avot. Es gibt also keine Gemara. “Gemara”, von גמר “gmar”, im babylonischen Aramäisch “vollenden”, auch “lernen”, meint die Vervollständigung der Mischna durch die Auslegung der rabbinischen Gelehrten. Mischna und Gemara zusammen ergeben den Talmud.
Die “Sprüche der Väter” in Hebräisch und deutscher Übersetzung finden Sie auf talmud.de.
Zum Durchblättern und Hören: Sayings of the Jewish fathers: comprising Pirqe Aboth in Hebrew and English, with notes and excursuses, Cambridge 1897.