Zum Pesachfest 5772
Im Jahr 1609 entschloss sich der in der Nähe von Padua geborene Israel ben Daniel Zifroni eine völlig neu gestaltete Pesach-Haggada herauszugeben. Ganz offensichtlich selbst nach einem langen Berufsleben mit entsprechendem Bildmaterial und künstlerischen Ausstattungen bestens vertraut, mangelte es Zifroni aber auch nicht an Selbstbewusstsein. Denn unter den Titel schrieb er:
Die Gestaltung jeder einzelnen Seite ist eine neue Erfindung. Der ganze Text der Haggada wurde mit Bibelszenen illustriert, damit ganz Israel all die wunderbaren Dinge sehe und verstehe, die sich die Väter nicht hatten träumen lassen.
Und setzte noch drauf in Hinblick auf seine eigene Person:
Burschen und Mädchen, Greise und Jünglinge, preiset den Namen des Herrn, der mich dazu veranlasst hat, mich, den Zifroni, eine derartige Pracht herauszugeben.
Nun, bei allem Respekt, ganz so neu, wie er schreibt, ist freilich nicht alles in der Venezianischen Haggada. Wir finden mehrere geläufige Bildinterpretationen und Übernahmen von illustrierten Bilddrucken, aber tatsächlich wurde auch eine beachtliche Zahl von Bildern wirklich ganz neu geschaffen. So etwa die Architekturumrahmung der einzelnen Seiten; jede Seite ist von zwei Säulen eingerahmt, die einen Giebel tragen, wodurch ein sehr monumentaler Eindruck entsteht.
Eine weitgehend neue und sehr phantasievolle Illustrierung finden wir auch auf Seite 15 der Haggada:
Über dem Bild eine Art Überschrift in deutscher Sprache, in Raschi-Schrift geschrieben:
Wie die Weiber haben sich gespiegelt mit ihren Mannen.
und unter den Apfelboim sein sie kumen zusammen.
Beim Bild handelt es sich – grundsätzlich – um die Illustrierung jenes Textes in der Pesach-Haggada, der den Propheten Ezechiel zitiert und dessen Wort sozusagen als Metapher für die Vermehrung der Israeliten in Ägypten anführt (der hebräische Text ist unter dem Bild zu sehen):
Zahlreich – wie es heißt (Ezechiel 16:7):
Zahlreich wie die Pflanzen des Feldes habe Ich dich gemacht, vermehrt hast du dich und bist groß geworden und bist gekommen in feinstem Schmuck, Brüste reiften und dein Haar spross – doch du warst nackt und bloß.
Die Venezianische Haggada zeigt aber nicht – etwa wie die Mantua-Haggada (1560 u. 1568) – eine nackte vollbusige Frau mit langem wirrem Haar, sondern 3 Einzelszenen in einem Bildrahmen am oberen Seitenrand. Und diese wollen wir uns genauer ansehen:
Wir beginnen
Links: Unter einem Apfelbaum sitzen ein Mann und eine Frau, die in einen Spiegel schauen. Die Anregung zu allen drei Bildern stammt aus der rabbinischen Tradition (siehe v.a. Sota 11b; Exodus rabba 1,7.12; Tanchuma Pequde 9), die berichtet, dass die Israeliten, die in Ägypten Zwangsarbeit verrichten mussten, nicht zu Hause schlafen durften, um ihren Frauen nicht beizuwohnen und Nachkommen zeugen zu können. Aber die Frauen gingen zu ihren Männern auf die Felder und brachten ihnen kleine Fische zum Essen. Nach dem Essen nahmen die Frauen ihre Spiegel und schauten gemeinsam mit ihren Männern hinein. Durch die erotische Anregung schwanger geworden kehrten sie zurück nach Hause. Zur Geburt gingen sie aber wieder auf das Feld hinaus und gebaren unter dem Apfelbaum, wie es im Hohelied 8,5 heißt:
Unter dem Apfelbaum hab ich dich geweckt, dort, wo deine Mutter dich empfing, wo deine Gebärerin in Wehen lag.
Mitte: Das mittlere Bild bezieht sich direkt auf den Haggada-Text davor (also vor dem Ezechielzitat, s.o.):
Groß und stark: wie es heißt in Ex 1,7:
Aber die Söhne Israels waren fruchtbar, sodass das Land von ihnen wimmelte. Sie vermehrten sich und wurden überaus stark; sie bevölkerten das Land.
Um die Illustration zu verstehen, müssen wir den Pentateuchkommentar des Raschi (Rabbi Schlomo ben Jitzchaq, 1040-1105) heranziehen, der sich auf die 6 Worte bezieht, die in diesem Bibelvers die Fruchtbarkeit der Israeliten beschreiben:
Und wimmelten, sie gebaren sechs in EINEM Mutterschoß (also bei einer Schwangerschaft).
Die Darstellung der sechs gleich großen Kinder, die sich um die Mutter scharen, bezieht sich also auf die Interpretation Raschis. Die Bildvorlage selbst dürfte Zifroni von der Bilderbibel des Moses dal Castellazzo, fol. 71 genommen haben:
Bilderbibel. Warschau, Jüdisches historisches Institut, Codex 1164. Oberitalien, Kopie einer Holzschnittfolge des Moses dal Castellazzo (ca. 1520) aus der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts.
Fol. 71: Vermehrung der Israeliten in Ägypten: Jede Mutter hat sechs Kinder (s.o.).
Rechts:
Die Ägypter wollten die neugeborenen israelitischen Kinder töten, doch die Erde verschlang sie schützend. Nachher aber kamen sie wie Pflanzen wieder aus der Erde hervor. Daher finden sich in der Illustration die Blumen vor den Kindern!
Dieses dritte Bild ganz rechts basiert wieder auf dem eingangs zitierten Prophetenwort Ezechiel 16,7:
“Zahlreich wie die Pflanzen auf dem Felde habe ich dich gemacht …”
Anmerkung: Nur der Genauigkeit halber sei hier kurz angemerkt, dass für die obige Beschreibung nicht der Druck (der Venezianischen Haggada) von 1609 (Bodleian Library in Oxford, Ms. Opp. Add. Fol. III, 468), sondern die Faksimileausgabe für den Druck von 1629, Bne Brak 1975 mit einer Einleitung von Bezalel Narkiss, herangezogen wurde. In der Ausgabe von 1609 wäre die besprochene Illustration auf Seite 14 zu finden.
Die beiden Ausgaben unterscheiden sich marginal, u.a. in der Paginierung um eine Seite. In beiden Ausgaben aber wird auf der Titelseite vermerkt, dass es sich um eine “neue Erfindung auf jeder einzelnen Seite handelt und dass der Text entsprechend illustriert wurde”.
Literatur
- Kurt Schubert, in: Klaus Lohrmann (Hg.), 1000 Jahre österreichisches Judentum, Ausstellungskatalog, Eisenstadt 1982, 326 (No. 73)
- Schubert U., Bilder zur Bibel im Judentum, Graz o.J.
- Schubert U., Jüdische Buchkunst I, Graz 1983
- Schubert U., Jüdische Buchkunst II, Graz 1992
Wir wünschen Ihnen ein frohes und koscheres Pesachfest 5772!
חג פסח כשר ושמח
Außerdem wünschen wir unseren christlichen Leserinnen und Lesern ein frohes Osterfest!
100th anniversary of the sinking of the Titanic
The world remembers the sinking of the Titanic 100 years ago with a luxury sailing following Titanic’s route. When the Titanic sank 100 years ago a prayer was said for the passengers of the Titanic who drowned.
Enclosing* the prayer E-L MALE RACHAMIM (prayer for the dead) for the drowned passengers of the Titanic by the famous Cantor Yossele Rosenblatt (courtesy of Rabbi Y. Goldhaber)
El Male Rachamim (mp3)