Der Mordprozess

Der Mordprozess

“Heute ist der 29. Kislev 465 = Freitag, 26. Dezember 1704, hier in der heiligen jüdischen Gemeinde Lackenbach.”

 

Obwohl dieser Mordprozess vor über 300 Jahren stattfand, begann die spannende Geschichte für mich im Jänner 2025. Ich erhielt eine sehr nette und freundliche E-Mailnachricht aus Israel. Herr S. H. ersuchte mich, den Grabstein seines 9-fachen Großvaters in Lackenbach zu suchen. Sein Name war “Notal” oder so ähnlich und gestorben sein müsste er um 1730. Warum er genau diesen Grabstein sucht, wurde mir erst viel später klar, denn dabei sollte es um den Vater dieses “Notal” gehen, also den 10-fachen Großvater.

Ich antwortete, dass ich gerne versuchen werde, den Grabstein zu finden, nur ohne versprechen zu können, dass es auch gelingt. Denn die Nummern der Grabsteine, die sich in der in den 1980er-Jahren erstellten Gräberliste (seit 2009 online) des jüdischen Friedhofes Lackenbach finden, sind längst verblasst und außer in den ersten drei Reihen nirgends mehr zu sehen. Und die neuen Nummerntäfelchen, die in den letzten Jahren im Zuge der Renovierungsarbeiten angebracht wurden, fehlen auch schon fast auf jedem Grabstein, aber abgesehen davon sind ihnen ohnehin keine Namen zugewiesen und sie stimmen auch nicht mit den alten Nummer überein, sodass sie für eine Gräbersuche völlig nutzlos sind. Siehe dazu besonders meinen Übersichtsartikel.

Mit großem Optimismus begann ich mit der Suche. Aber es war Winter und im eisigen Wind konnte ich immer nur kurze Zeit am Friedhof verbringen ohne zu erfrieren. Die Vorgangsweise war klar, sie ist immer dieselbe in Lackenbach: Weil ich den Friedhof recht gut kenne, hatte ich einen Anfangsverdacht, wo auf dem riesigen, über 9.000m2 großen Friedhof der Grabstein, der zweifelsohne zu den ältesten des Friedhofes gehört, zu finden sein könnte. Der gesuchte Grabstein musste sozusagen eingekreist werden. Das bedeutet, ich suche Grabsteine, die noch halbwegs gut lesbar sind und versuche sie, einem Grabstein in der vorhandenen alten Liste zuzuordnen (die leider viele Fehler aufweist) um mich so zum gesuchten Grabstein vorzutasten.

Es vergingen dennoch zwei Monate, erst am 23. März 2025 fand ich den gesuchten Grabstein.

Grabstein Natel, Sohn des Heiligen, des ehrbaren Herrn Hesel., 23. Nisan 497 = Mittwoch, 24. April 1737, noch unbearbeitet
Grabstein Natel, Sohn des Heiligen, des ehrbaren Herrn Hesel., 23. Nisan 497 = Mittwoch, 24. April 1737, noch unbearbeitet, gefunden am 28. März um 17.26h

Es handelte sich eindeutig um den Grabstein von “Natel” (in der Liste “Notal”), nur als Sterbedatum las ich nicht 1730, sondern den 23. Nisan 497 = Mittwoch, 24. April 1737.

Der Grabstein war im Laufe der Jahrhunderte etwas in die Erde eingesunken und ‒ nach dem Schneiden des Grases und der Bearbeitung mit Kreide ‒ nur bis inklusive Zeile 6 lesbar.
Die Zeile 6 liefert uns den Namen des Verstorbenen sowie einen Teil seiner Herkunft:

Grabstein Natel, Zeile 6: Natel, Sohn des Heiligen
Grabstein Natel, Zeile 6: Natel, Sohn des Heiligen

נטל בן הקדש
Natel, Sohn des Heiligen

heißt es da. Als “Heiliger” (hebräisch “Kadosch”) werden üblicherweise ermordete Juden bezeichnet, sprich: offensichtlich ist der Vater des verstorbenen Natel ermordet worden. Fehlt also noch zumindest die Zeile 7, in der wir den Namen des “Heiligen”, des Vaters erwarten dürfen.

Nach Rücksprache mit der israelischen Familie legte ich also vorsichtig die nächsten beiden Zeilen frei. Die letzte Zeile (8) war die sogenannte Schlusseulogie, die seit Jahrhunderten auf praktisch jedem jüdischen Grabstein zu finden ist (תנצב”ה “Seine/Ihre Seele möge eingebunden sein im Bündel des Lebens”), und in Zeile 7 stand nun tatsächlich der erhoffte Name des Vaters: Hesel!

Grabstein Natel, Zeile 7: der ehrenwerte Herr Hesel, sein Andenken möge bewahrt werden
Grabstein Natel, Zeile 7: der ehrenwerte Herr Hesel, sein Andenken möge bewahrt werden

Zeitsprung: 300 Jahre früher

Am 26. Dezember 1704 begann in Lackenbach die Zeugeneinvernehmung, konkret eine Beweisaufnahme, zu den im Zuge der Kuruzzenüberfälle[1] ermordeten Juden. Dabei wird auch Herr Hesel als einer der von den Kuruzzen grausam ermordeten Juden erwähnt (daher die Bezeichnung “Heiliger” in der Grabinschrift Zeile 6, s.o.).

Einen sehr detaillierten Bericht über die Zeugeneinvernehmung finden wir in einer Publikation des 1664 in Worms geborenen späteren Oberrabbiners von Prag und Landesrabbiners von Mähren und Böhmen, David ben Abraham Oppenheimer. Oppenheimers große Bedeutung liegt vor allem in seiner Tätigkeit als Mäzen der jüdischen Literatur und Bibliophilie. Selbst schrieb er auch einige Werke, darunter das “Schlal David” “Die Beute Davids” (genannt nach 1 Samuel 30,20). Es handelt sich dabei um ein Responsenwerk (hebräisch: שאלות ותשובות, abgekürzt ש”ת “”Sche’elot utschuvot”, Deutsch: “Fragen und Antworten”), geschrieben zwischen 1688 und 1709. Die 266 Seiten starke Publikation ist heute online abrufbar auf der Israelischen Nationalbibliothek: Ms. Heb. 966=4.
Geschrieben ist “Schlal David” in hebräischer Kursive, die Sprache ist Deutsch, gemischt mit vielen hebräischen und aramäischen Wörtern.

Auf Seite 97 beginnen die Zeugenaussagen, der Einfachheit halber hier die entscheidenden Stellen:

Schlal David von R. David Oppenheimer, Seite 97, Paragraf א
Schlal David von R. David Oppenheimer, Seite 97, Paragraf א

(Eröffnung der Zeugenaussagen): Als wir drei im Gerichtssaal saßen, trat der ehrbare Herr Issachar vor, der genannt wurde Beer, Sohn des ehrbaren Herrn, Herrn Naftali aus der heiligen jüdischen Gemeinde Zelem (= Deutschkreutz). Er legte Zeugnis ab auf die Tora des absoluten Zeugnisses, im Sinn von „Wenn er es nicht anzeigt…”[2].

א) Er sagte also Folgendes: Der Mord wurde am Dienstag und am darauffolgenden Donnerstag begangen. Zwei Tage nach dem Mord bin ich nämlich denselben Weg mit Soldaten gereist. Ich habe die Ermordeten gesehen, und zwar: den ehrbaren Herrn Sanwil habe ich gefunden und er ist geköpft worden. Daher habe ich das Gesicht nicht richtig erkannt. Aber der Kopf ist nicht weit weg vom Körper gelegen. Daher hab ich am Körper nach einem anderen Merkmal gesucht, das ich beim Lebenden gesehen habe: Er hatte eine Wunde auf den Beinen, daher hab ich ihn an diesem eindeutigen Merkmal erkannt. Danach sah ich den Kopf deutlich und habe an seiner Gestalt und an seinem Kopf erkannt, dass es Herr Sanwil war. Er war der Sohn seiner Schwester[3].

 
Schlal David von R. David Oppenheimer, Seite 97, Paragraf ב und ג
Schlal David von R. David Oppenheimer, Seite 97, Paragraf ב und ג

ב) Auch den ehrbaren Herrn Hesel und den ehrbaren Herrn Jakob Chajjat (= Schneider) habe ich an seinem Gesicht mit einem deutlichen Zeichen erkannt. Dann, etwa eine halbe Wegstunde entfernt, sah ich Beril Glaser. Er lag auf seinem Gesicht und auf ihm ein Baum, daher hab ich erst nicht gewusst wer er war. Dann habe ich ihn erkannt als Berl Glaser aus K“D (Kobersdorf).

ג) Danach bin ich ein paar Schritte gegangen und fand diese zwei Ermordeten: einer von ihnen ist auf der rechten Seite und einer auf der linken Seite gelegen. Ich habe gesucht und habe erkannt, dass auf der linken Seite ein Nichtjude gelegen ist und auf der rechten Seite zum Unterschied ein Jude. Sein Name ist Gerschon Helbleich? aus K”D (Kobersdorf).

 
Schlal David von R. David Oppenheimer, Seite 100 rechts unten
Schlal David von R. David Oppenheimer, Seite 100 rechts unten

Heute ist der 29. Kislev 465 (= Freitag, 26. Dezember 1704), hier in der heiligen jüdischen Gemeinde Lackenbach.

Jehuda, der verstorbene Mann, unser Meister und Lehrer, Herr Gedalja, sein Andenken möge bewahrt werden
Aussage des Ruben…Aschkenasi

Und die Aussage des Mose, Sohn unseres Lehrers und Meisters[4], des ehrbaren Herrn Salomo, sein Andenken möge bewahrt werden, Kinderlehrer hier in der heiligen jüdischen Gemeinde Lackenbach

 
Schlal David von R. David Oppenheimer, Seite 100 links oben
Schlal David von R. David Oppenheimer, Seite 100 links oben

Das sind die Namen der Menschen, die ermordet wurden und derer gedacht wird in diesem Zeugnis:

Der ehrbare Herr Sanwil

Der ehrbare Herr Hesel

Der ehrbare Herr Jakob Chajjat (Schneider)

Beril[5] Glaser aus Kobersdorf

Gerschon Helbleich?

Itzik aus der heiligen jüdischen Gemeinde Zelem (= Deutschkreutz)

Mose Schnör Micher

Itzik, Schwiegersohn des Meinsterl aus Kobersdorf

DER HERR wird die Rache für die Opfer vollziehen und kein unschuldig vergossenes Blut ungesühnt lassen.[6]

 

Auf den beiden jüdischen Friedhöfen in Eisenstadt sind insgesamt 28 Menschen begraben, die den Nachnamen “Hess” trugen. Sehr wahrscheinlich haben sie alle einen gemeinsamen Ahnen, und zwar in Lackenbach: den 1704 ermordeten Herrn Hesel, den Vater von Natel.

In direkter Linie ist der 5-fache Großvater des anfragenden Herrn S. H. Salman Hess, von dem wir in Eisenstadt zwar kein Grab und keinen Grabstein haben, von dem es aber eine Jahrzeittafel gibt. Er starb am 16. Tevet 5666 = Schabbat, 13. Jänner 1906.[7]

Jahrzeittafel von Salman Hess, dem Sohn der Pessel, gest. 16. Tevet  5666 = Schabbat, 13. Jänner 1906
Jahrzeittafel von Salman Hess, dem Sohn der Pessel, gest. 16. Tevet 5666 = Schabbat, 13. Jänner 1906

Eine Tochter von Salman Hess ist Hermine (Chaila) Hess, die am jüngeren jüdischen Friedhof in Eisenstadt begraben ist. Sie ist die Schwester von Emanuel (Menachem) Hess, dem 4-fachen Großvater des Herrn S. H. aus Israel.

Noch ein PS: Dass ein ehemaliger Vorname später zum Nachnamen einer Familie wird (Vorname HESEL -> Nachname HESS), ist nicht unüblich. Ein prominentes Beispiel ist die Familie Wolf in Eisenstadt: Der Stammvater der Familie ist Benjamin Wolf Austerlitz, gest. 1731, sein Urenkel Chaim Wolf Kittsee, gest. 1823, hat sich bereits den bürgerlichen Namen “Joachim Wolf” zugelegt.

 
 

[1] Die Kuruzen (auch Kuruzzen oder Kurutzen) waren eine Gruppe von bewaffneten antihabsburgischen Aufständischen im Königreich Ungarn von 1671 bis 1711. [Zurück zum Text (1)]

[2] Leviticus 5,1 אִם־ל֥וֹא יַגִּ֖יד וְנָשָׂ֥א עֲוֺנֽוֹ׃ “…wenn er es nicht meldet / wenn er es nicht anzeigt, dann soll er seine Schuld tragen”. [Zurück zum Text (2)]

[3] Mir ist nicht klar, auf wen sich “Er war der Sohn seiner Schwester” bezieht. [Zurück zum Text (3)]

[4] Die Abkürzung בא”א löse ich auf in בן אדונינו אבינו “Sohn unseres Herrn und unseres Vaters” (so wörtlich). [Zurück zum Text (4)]

[5] Herr Glaser wird in dem Dokument einmal “Beril”, einmal “Berl” genannt. [Zurück zum Text (5)]

[6] Siehe u.a. Joel 4,21 וְנִקֵּ֖יתִי דָּמָ֣ם לֹֽא־נִקֵּ֑יתִי “ich erkläre ihr Blut für unschuldig, das ich vorher nicht für unschuldig erklärte…” [Zurück zum Text (6)]

[7] Die Installation mit 755 Jahrzeittafeln befindet sich in der Wertheimer’schen Synagoge im Österreichischen Jüdischen Museum in Eisenstadt, siehe besonders meinen Artikel über die Jahrzeit.[Zurück zum Text (7)]

 

3 Kommentare

  1. Lieber Johannes, wie immer lese ich deine Zeilen mit großer Freude! Deine Arbeit, die Grabsteine zu entschlüsseln und die Geschichte dahinter aufzudecken, ist beeindruckend und faszinierend. Besonders spannend finde ich, wie du die Verbindung zwischen dem Grabstein von Natel und den Zeugen Aussagen aus dem Jahr 1704 herstellst. Das zeigt wirklich, wie wertvoll solche archäologischen Funde und historischen Quellen für die Genealogie und Geschichte sind. LG Herbert

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