Der Herr Nissim

Der Herr Nissim

Über die Kategorie “Bagatellen”

 

Herr Nissim, Sohn des Aaron, 10. Tammus 147 (= Donnerstag, 27. Juni 1387)

 

Grabstein des jüdischen Handelsmanns Herrn Nissim, 27. Juni 1387
Grabstein des jüdischen Handelsmanns Herrn Nissim, 27. Juni 1387

Bildquelle: Wikimedia.

 

Dieser Grabstein befand sich bis November 2024 (siehe ORF-Meldung) im sogenannten Erzherzog-Karl-Trakt am Ostflügel der Grazer Burg, ein Abguss davon im Graz Museum. Die Übersetzung dort entspricht der Tafel mit der Übersetzung, die zumindest (seit?) 2009 beim Originalgrabstein in der Mauer der Grazer Burg angebracht war. Allerdings wird der Herr Nissim aus unerfindlichen Gründen im Museum nun auf einmal zum Rabbi, s.u. Anmerkungen.

Die ursprüngliche Übersetzung stammt von niemand Geringerem als dem ehemaligen Rabbiner für Steiermark und Kärnten und bis 1918 für Krain, David Herzog. Seit 1909 lehrte dieser an der Karl-Franzens-Universität in Graz die hebräische Sprache und wurde 1926 zum außerordentlichen Universitätsprofessor ernannt. Herzog emigrierte 1938 nach London und starb am 6. März 1946 in Oxford.
Der Artikel lautet: Der jüdische Grabstein in der Burg zu Graz. Eine Studie, der Stadt Graz zur Achthundertjahrfeier ihrer Gründung, gewidmet von D. Herzog und findet sich in der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums Jahrg. 72 (N. F. 36), H. 3/4 (März/April 1928), pp. 159-167 .

Herzog war mit dem großen und berühmten Bibliothekar und Archivar der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Dr. Bernhard Wachsstein, im engen Austausch, auch und besonders mit der Grabinschrift von Nissim, dem Sohn des Aaron.

 

Die hebräische Grabinschrift mit der Übersetzung von David Herzog

Inschrift Herr Nissim, Sohn des Aaron, 1387 DH: Zeilengerechte Transkription und Übersetzung
[1] Und es ward ותהי
[2] zum Klagelaut meine Zither לאבל כינורי
[3] und zum lauten Weinen mein Lied ולקול בוכים שי[רי]
[4] durch das Hinscheiden des Vaters, meines Lehrers בפטירת אבא מו[רי]
[5] des Herrn Nissim, Sohn des Herrn Aharon, ר’ נסים ב’ ר’ אהרון
[6] der in seine Ewigkeit eingegangen שהלך לעולמו
[7] am Donnerstag, den zehnten im Monate Tammus im Jahre ביו[ם] ה’ י’ בתמוז שנ[ת]
[8] einhundertsiebenundvierzig des sechsten ק’מ’ז’ ל”פ לאלף
[9] Jahrtausends. Möchte seine Seele eingebunden sein im Bunde des Lebens. Amen. הששי ת’נ’צ’ב’ה’ א[מן]
[10] Selah. ס[לה]
 

Anmerkungen

Zeile 3: Herzog merkt in einer Fußnote auf Seite 160 und 162 an “Zur Umbiegung (sic!) dieses in Hiob 30,31 stehenden Wortes וענבי in שירי, vgl. auch Ezechiel 33,32, Amos 8,10 und die Stelle im שלמינית der סליחות לצום גדלי’ 1824 b. f. Mitte, wo es ebenfalls heißt ויהי לאבל כנור ושיר

Meine Anmerkungen zur Anmerkung von Herzog:

Herzog ersetzt (er spricht von “Umbiegung”) also das biblische וענבי “meine Flöte” in Ijob 31,31 mit שיריmein Lied” und führt als Belege dafür Ezechiel 33,32 an: וְהִנְּךָ֤ לָהֶם֙ כְּשִׁ֣יר עֲגָבִ֔ים יְפֵ֥ה ק֖וֹל וּמֵטִ֣ב נַגֵּ֑ן “und so bist du ihnen — als wäre es ein Liebeslied von schöner Stimme” und Amos 8,10: וְהָפַכְתִּ֨י חַגֵּיכֶ֜ם לְאֵ֗בֶל וְכׇל־שִֽׁירֵיכֶם֙ לְקִינָ֔ה וְהַעֲלֵיתִ֤י עַל־כׇּל־מׇתְנַ֙יִם֙ שָׂ֔ק וְעַל־כׇּל־רֹ֖אשׁ קׇרְחָ֑ה “Eure Festtage verwandle ich in Trauer, eure Jubellieder in Klagen, alle Hüften lasse ich mit Säcken umwinden, und an den Häuptern Glatzen scheren.” Weiters verweist er auf die סליחות לימי התשובה/מנהג פולין/סליחות לצום גדליהBußgebete für das Gedalja-Fasten“, wo es heißt: וַיְהִי לְאֵבֶל כִּנּוֹר וְשִׁיר וְעֻגָּב “Und für die Trauer gab es eine Zither/Harfe, ein Lied und eine Orgel”.

Zeile 4: Nur eine Kleinigkeit: Ich sehe in der Grabinschrift am Stein das ו von מו[…] nicht.

Zeile 5: Noch eine Kleinigkeit: Ich sehe in der Grabinschrift am Stein auch nicht das ו von אהרן. Zugegeben ist der “Strich” des Finalbuchstabens sehr kurz für ein Final-Nun ן, aber wie auch immer, entweder fehlt das ו oder das ן. Beide Buchstaben sind nicht da, wie Herzogs Transkription vorgibt.

 

Im Folgenden sei mein Übersetzungsvorschlag samt Anmerkungen extra angeführt, damit die Anmerkungen nicht zu unübersichtlich werden.
Meine Übersetzung unterscheidet sich in Winzigkeiten von der Herzogs, nur in Zeile 3 habe ich eine alternative Abkürzungsauflösung.

Die hebräische Grabinschrift

Inschrift Herr Nissim, Sohn des Aaron, 1387: Zeilengerechte Transkription und Übersetzung
[1] Es wurde ותהי
[2] zur Trauerklage meine Zither לאבל כינורי
[3] und zur Stimme der Weinenden: “Dass er [leben möge!]” ולקול בוכים שי[חיה]
[4] beim Hinscheiden des Vaters, u[nseres Lehrers, des Herrn], בפטירת אבא מ[ורי]
[5] des H[errn] Nissim, S[ohn] d[es Herrn] Aaron, ר[ב] נסים ב[ן] ר[ב] אהרן
[6] der in seine Ewigkeit ging שהלך לעולמו
[7] am Ta[g] 5 (= Donnerstag), 10. Tammus des Jah[res] ביו[ם] ה’ י’ בתמוז שנ[ת]
[8] 147 der Z[ählung] im sechsten ק’מ’ז’ לפ[רט] לאלף
[9] Jahrtausend. S[eine] S[eele] m[öge eingebunden sein] i[m Bund] d[es Lebens]. A[men]. הששי ת[הי] נ[פשו] צ[רורה] ב[צרור] ה[חיים] א[מן]
[10] S[ela]. ס[לה]
 

Anmerkungen

Vorweg: Ich halte mich grundsätzlich so gut wie möglich an das Leidener Klammersystem, siehe dazu “Über die Konventionen“. Hier wurden aber ausnahmsweise bei Abkürzungen nicht runde, sondern eckige Klammern gesetzt, allerdings ohne Punkte auf der Zeile, da keine nicht rekonstruierbaren Buchstaben angedeutet werden sollen. In der Klammer wurden die Abkürzungen meist aufgelöst.

Zeile 2 und 3: Siehe Ijob 30,31 וַיְהִ֣י לְ֭אֵבֶל כִּנֹּרִ֑י וְ֝עֻגָבִ֗י לְק֣וֹל בֹּכִֽים׃ “Und so ist meine Zither zur Trauerklage geworden und meine Flöte zur Stimme der Weinenden.” (Übersetzung Buber-Rosenzweig: “meine Leier ist zur Trauer geworden, zu einer Stimme Weinender meine Schalmei”; Übersetzung Luther: “Mein Harfenspiel ist zur Klage geworden und mein Flötenspiel zum Trauerlied.”).

Zeile 3: Eine mögliche Alternative zur Übersetzung von Herzog:
Obwohl kein Apostroph nach oder ein Punkt über dem Buchstaben zu erkennen ist, wodurch eine Abkürzung angezeigt werden würde, scheint mir dennoch eine naheliegende Möglichkeit zu sein das שי als Abkürzung für שיחיה “Dass er leben möge” zu übersetzen. Als Ausruf der Verzweiflung, weil es danach sofort in der nächsten Zeile weitergeht mit “beim Hinscheiden des…”.

Theoretisch könnten wir das שי auch als Abkürzung für שיחיו “sie mögen leben” lesen, was sich dann als Segenwunsch auf die davor genannten Weinenden beziehen würde. Gegen diese Lesung sprechen mE allerdings zwei Argumente:

  1. Weil, wie vorhin angemerkt, die Fortsetzung in Zeile 4 mit “beim Hinscheiden” vor allem dann einen Sinn macht, wenn wir die Lesung als Klage “Dass er leben möge” verstehen und
  2. ist die Lesung als Segenswunsch für die Weinenden schon alleine deshalb sehr unwahrscheinlich, weil wir den Segenswunsch שיחיה “er möge leben”, meist abkürzt mit שי, immer und ausnahmslos nach einem konkreten Namen finden (zB hier 1787: “Die betagte Frau Bella, Gattin des Herrn Eli Karlebach, er möge leben…”). Das ist aber in unserer Inschrift nicht der Fall.
    Abgesehen davon datiert der Grabstein aus einer wesentlich späteren Zeit. Aber auch für Herzos Abkürzungsauflösung in שירי
  3. “mein Lied” kann ich keine Belege in Grabinschriften finden.

Schlussendlich gestehe ich aber respektvoll, dass mir die Abkürzungsauflösung von Herzog gelehrter scheint als meine ;-)

Zeile 4: Das מ am Zeilenschluss lese ich trotz Fehlens eines Punkts über dem Buchstaben als Abkürzung für מורנו הרב MORENU “unser Lehrer, der Herr”.

MORENU bedeutet wörtlich “u(nser) L(ehrer), H(err)”. Den MORENU-Titel erhielten nur besonders gelehrte Männer, Bernhard Wachstein bezeichnet ihn als “synagogaler Doktortitel” (siehe Bernhard Wachstein, Die Inschriften des Alten Judenfriedhofes in Wien, 1. Teil 1540 (?)-1670, 2. Teil 1696-1783, Wien 1912, 2. Teil, S. 15).

Selbstverständlich ist auch die Lesung von Herzog מורי “mein Lehrer” gerechtfertigt, für die er sich offensichtlich aufgrund des vorangehenden אבא “Vater” entscheidet. Ich würde mich für “mein Lehrer” eher nur dann entscheiden, wenn davor nicht אבא “Vater”, sondern konkret אבי “mein Vater” stehen würde. Das wäre dann im Sinne von “beim Hinscheiden meines Vaters und Lehrers”. Hier aber “des Vaters, des MORENU”.

Zeile 4 und 5:
Schon David Herzog schreibt über den Herrn Nissim und nicht über den Rabbiner Nissim, geschweige denn über den Rabbiner Aaron.
Als Herr Andreas Praefcke im Juni 2009 in der Grazer Burg den Grabstein samt Tafel mit Übersetzung fotografierte, stand auf der Tafel “Grabstein des jüdischen Handelsmannes Rabbi Nissim”, siehe Foto des Grabsteins mit Tafel samt Übersetzung.

Dennoch taucht Herr Nissim im Grazmuseum plötzlich als Rabbiner auf.

Die hebräische Abkürzung ר meint aber nicht “Rabbiner”, auch nicht den rabbinischen Gelehrten. Aufgelöst in רב, gesprochen “rev”, ist einfach “Herr” gemeint, im Sinne von “Herr X” und “Herr Y”.
Der Rabbiner im Sinne eines geistlichen Leiters einer jüdischen Gemeinde würde in neueren Zeiten in einer hebräischen Grabinschrift immer zumindest mit הרב “ha-rav”, “der Rabbiner” bezeichnet werden. Mit “zumindest” ist gemeint, dass bei Rabbinern fast immer weitere eindeutige Attribute folgen wie הגדול “der große”, מהרם “MaHaRaM “unser Meister und Lehrer”, הרב הגאון הגדול “der überragende Gelehrte” usw.
In mittelalterlichen Grabinschriften wird הרב mit “Meister” übersetzt. Meint es ausdrücklich den “Rabbiner”, steht es vor dem ר, etwa bei Rabbi Baruch ben Meir, gest. 1281.
Gleichermaßen finden wir im Mittelalter das aramäische רבנא “ravna”, das ebenfalls mit “Meister” übersetzt wird. In der sehr kurzen Grabinschrift von Meschullam ben Mosche, gest. 1094/95, finden wir zweimal רבנא “ravna” und einmal הרב “ha-rav”, “der Rabbiner”, allerdings mit dem Zusatz המאור הגדול “die große Leuchte”.

In der Grabinschrift von Herrn Nissim, dem Sohn des Herrn Aron, gibt es keine Hinweise auf seine überragende Gelehrsamkeit, wenngleich sehr wahrscheinlich ein gewisser jüdischer Bildungsgrad angedeutet werden soll (Zeile 4, s.o. Anmerkung zu Zeile 4). Das מ für “Meister und Lehrer” rechtfertigt aber nicht, Herrn Nissim und schon gar nicht seinen Vater Aron, bei dem nur das “Rev” vorgestellt ist, als Rabbiner zu bezeichnen. Schon alleine deshalb, weil eine solche Übersetzung die Gefahr birgt, das Wort im heutigen Sinn, also nicht richtig zu verstehen.

Zeile 5: Der Name נסים “Nissim” wird in der Umschrift mit zwei “s” geschrieben. Der Grund ist, dass es sich bei diesem Namen um den hebräischen Plural des Wortes נס “nes”, “Wunder” handelt נִסִּים “nissim”.
Der Name bedeutet also etwa “Wunder”, “Wunderzeichen” o.Ä. An der hebräischen Wortwurzel נסס haftet ursprünglich (im Akkadischen “nasāsu”) die Bedeutung “hin- und her bewegen”, dann auch “schwenken”. Der Name kommt heute vorwiegend im sefardischen Raum vor, seltener im aschkenasischen. Außerdem finden wir den Namen als Nachnamen, z.B. am jüdischen Friedhof in Triest Dr. Paolo Nissim, Triestiner Oberrabbiner von 1952 bis zum seinem Tod 1969. Im Mittelalter ist der Name nur im Osten Österreichs einige Male belegt, sonst konnte ich keine Beleg für den Namen finden.
Über den konkreten Herrn Nissim siehe oben den Artikel von David Herzog.

Zeile 7 und 8: Zum Sterbedatum: Es ist zunächst nicht sicher zu erkennen, ob das Sterbejahr in Zeile 8 קמו 146 oder קמז 147 gelesen werden muss. Da der 10. Tammus (Zeile 7) im Jahr 147 = 1387 ein Donnerstag war (im Jahr 146 = 1386 aber ein Schabbat), ist die Lesung klar, das Sterbedatum ist Donnerstag, 10. Tammus 147 und das ist umgerechnet Donnerstag, 27. Juni 1387.

Mir ist nicht klar, warum Herzog sich bei לפ für eine Abkürzung entscheidet, die ich auch in der Inschrift am Stein nicht erkennen kann ל”פ. Wir haben genügend Belege von mittelalterlichen Grabinschriften, besonders aus Worms, auf denen insbesondere im Zusammenhang mit dem frühen 6. Jahrtausend לפרט לאלף השישי “der Zählung im 6. Jahrtausend” zu finden ist.

Zeile 10: “Sela” finden wir in der hebräischen Bibel in den Psalmen. Es wird interpretiert als Angabe eines Ruhepunktes im Gesang bzw. als Schlusszeichen einer Strophe, siehe den Wikipediaeintrag dazu.

 

2 Kommentare

  1. Rut

    grandios Dankeschön, da raucht einem der Kopfe… auf den Grazer Friedhof wäre ich jetzt nicht gekommen;)
    Frage zu dem Absatz in dem eine Orgel erwähnt wird….wie wo ist diese vorgekommen in dieser ja jüdisches Trauerfeier? sehr ausführlich auch die ganze Rabbi Rav und Rev Erklärungen.
    PS morenu als synagogaler Titel…finde ich sehr schön und passend
    herzliche Grüße

    1. Liebe Rut, vielen herzlichen Dank, freut mich ganz außerordentlich! Also das mit der Orgel, das kommt in den Slichot vor, das sind grundsätzlich die Bußgebete zu den Hohen Feiertagen. Im konkreten Fall die Bußgebete zum Gedalja-Fasten, das ist immer am 3. Tischre, also gleich nach Rosch Ha-Schana.
      herzliche Grüße, Johannes

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