Rabbiner Simon Goldberger

Rabbiner Simon Goldberger

Ein tragisches “Follow-up” zum Artikel über das Genisagrab in Kobersdorf

Am 20. April 1938 wurden 13 Torarollen am jüdischen Friedhof von Kobersdorf begraben. An diesem 20. April wurde der Kobersdorfer Rabbiner Simon Goldberger mit seiner gesamten Familie von den Nazis verschleppt und schwerst misshandelt.

In einem Dokument im russischen Staatsarchiv (USHMMA RG 11.001M.25, reel 106 SAM 674-1-109, 55-65) finden wir einen sehr detaillierten Bericht über die schrecklichen Stunden der Familie Goldberger an der ungarischen Grenze:

In Kobersdorf (Burgenland) überfiel zur Mittagszeit eine Rotte jugendlicher SA-Leute den 30-jährigen Rabbiner des Ortes, einen mit gültigem ungarischen Pass versehenen ungarischen Staatsbürger, namens Goldberger, “beschlagnahmten” zunächst sein ganzes Barvermögen und alles von seiner beweglichen Habe, was sich leicht und schnell verkaufen lässt, dann luden sie den Rabbiner, seine eben erst vom Wochenbett aufgestandene Gattin mit ihren drei Kindern im Alter von 3 Wochen, 1 1/2 und 3 Jahren, nebst den für die deutschen Plünderer nicht verwendbaren Möbelstücken auf ein Lastauto, fuhren mit ihrer Beute, den Menschen und dem Mobiliar bis an das nahe gelegene ungarische Grenzdorf Harka und warfen dort, etwa 300 Schritte von der ungarischen Zollwache entfernt, aber noch auf österreichischem Gebiete, während ein eisiger Schneesturm übers Land fege, auf die roheste Art Menschen und Möbel vom Auto auf die Straße herab. Der Rabbiner schleppte sich bis zum ungarischen Grenzhaus, um dort Beistand zu erbitten und dann die Grenze, wie er mit Sicherheit annahm, überschreiten zu können. Er hatte aber die Rechnung ohne die ungarische Regierung gemacht, die beinahe täglich neue Verordnungen erließ, um auch mit gültigen Pässen versehene Juden, die ungarische Staatsbürger sind, die Rückkehr ins Vaterland unmöglich zu machen. Der ungarische Grenzwächter erklärte also pflichtgemäß dem Rabbiner, jeder ungarische Jude, der sich aus Österreich nach Ungarn nicht etwa flüchten, ‒ weshalb denn und vor wem? ‒ sondern “begeben” wolle, müsse außer seinem Pass noch einen vom ungarischen Konsulat in Wien ausgefertigten Erlaubnisschein zum Überschreiten der ungarischen Grenze haben.

Aber wie sollte, wie konnte sich der bereits an der Grenze stehende Mann, den die SA-Leute mit Gewalt an der Rückkehr nach Österreich hinderten, im Handumdrehen einen solchen Passierschein aus Wien verschaffen? So suchte denn Goldberger, um wenigstens sich und die Seinigen vor der Kälte und dem heulenden Schneesturm zu schützen, Zuflucht in einer unweit dem ungarischen Zollhaus gelegenen Winzerhütte, die anstatt einer Türe nur eine Öffnung im Gebälk hatte. Unter seiner Habe befand sich noch ein Leintuch, mit dem er den Lehmboden bedeckte, damit die Kinder wenigstens nicht auf dem eiskalten Boden liegen mussten. Denn inzwischen war es Abend geworden und er gedachte, die Nacht mit den Seinen in dem noch auf österreichischem Boden befindlichen Winzerhäuschen zu verbringen.

Nichts ist bekanntlich schneller als die Fama, und so wusste man denn in der nahen Grenzstadt Sopron (Oedenburg) sehr bald von den Geschehnissen beim Grenzhaus von Harka. Mildtätige Menschen schickten sofort ein Auto mit Lebensmitteln und Kissen nach Harka, das vor dem Winzerhäuschen, wenige Schritte hinter dem ungarischen Zollhaus, aber doch schon – das muss immer betont werden – auf österreichischem Gebiet Halt machen wollte; augenblicks wurde es unter gröbstem Fluchen und Schimpfen von den deutschen SA-Männern wieder über die Grenze gejagt. Dann betraten drei mit Gewehren bewaffnete SA-Leute die Hütte und herrschten den Rabbiner an: “Aufstehen, Saujud, nimm deinen Kram auf den Buckel und komm sofort heraus.”

Draußen angelangt versetzten die deutschen Helden den Rabbiner, natürlich von hinten, einen Stoß, dass Goldberger auf die Straße hinschlug, und nun traktierten die drei SA-Männer ihr wehrloses Opfer mit Kolbenstößen und Fußtritten, bis Goldberger eine Rippe gebrochen wurde und er in einen Klumpen Blut verwandelt war. Während seine Gattin die Schmerzensschreie des Rabbiners vernahm, wie eine Wahnsinnige brüllend, im Dunkel der Nacht von einem Grenzhaus zum anderen irrte, stahlen die SA-Männer die Leintücher, auf denen die Kinder lagen, mit der Bemerkung: “Judenkinder sollen auf der Erde liegen”. Inzwischen war es dem Rabbiner, wie durch ein Wunder, gelungen, seinen Peinigern zu entfliehen und sich die wenigen Schritte bis zum ungarischen Zollhaus zu schleppen, vor dem er ohnmächtig zusammenbrach. Da stand, wie aus dem Boden gewachsen, plötzlich ein Zivilist, dem die SA-Leute zuriefen: “Gib dem Juden den letzten Hieb”. Zum Glück für den Rabbiner fiel er aber gerade auf den ‘Strich’, der Österreich von Ungarn trennt, nieder und so konnte endlich die ungarische Grenzwache, die all diese Vorgänge, bebend vor Zorn, mit angesehen hatte, aber nicht eingreifen durfte, weil sich das Ganze ja noch auf österreichischem Boden abgespielt hatte, in Aktion treten. Sie trugen den über und über mit Blut bedeckten Goldberger zunächst ins Zollhaus, wo er gelabt wurde, dann schlugen sie in unmittelbarer Nähe ein improvisiertes Zelt auf, wo sie die Familie notdürftig unterbrachten ‒ den armen Kindern waren unterdessen Finger und Füße erfroren – ließen ärztlichen Beistand aus Sopron kommen und, sobald es sein Zustand gestattete, den Schwerverletzten und seine Familie in die Stadt schaffen.

Vielen Dank an Naomi Eisenberger-Atlani, Toronto, Kanada, für die Zurverfügungstellung dieses Dokuments und die Unterstützung bei der Suche.

 

Der Bericht endet fast so, dass man Hoffnung schöpfen könnte. In der Literatur lesen wir nur:

Hier verliert sich für uns seine Spur. Über das Schicksal der übrigen Familienmitglieder von R. Simon Goldberger ‒ Ehefrau Paula und drei Kleinkinder ‒ ist leider ebenfalls nichts bekannt.

Hausensteiner Erwin J., Die ehemalige jüdische Gemeinde Kobersdorf. Ein Buch der Erinnerung, o.J., 172f

Das Schicksal der Familie Goldberger ist aber sehr wohl bekannt:

Am 19. März 1938 hatte Rabbiner Simon Goldberger ein Ansuchen um Erlangung der burgenländischen Landesbürgerschaft gestellt, das mit 31. März 1938 (per Datum) abgelehnt wurde.
Die folgenden Dokumente erhielt ich von Mag. Dieter Szorger, Amt der Burgenländischen Landesregierung, besten Dank!

Dokument der Saataspolizeistelle Eisenstadt vom 24. März 1938
Dokument der Saataspolizeistelle Eisenstadt vom 24. März 1938, Abweisung des Ansuchens von Rabbiner Goldberger um burgenländische Landesbürgerschaft

 

Vom 21. April 1938, dem Tag nach der Katastrophe, datiert für die gesamte Familie Goldberger das Dokument zur “Judenabsonderung in das Ausland” (!) vom Straßenzollamt Neckenmarkt an die Staatspolizeistelle in Eisenstadt mit Stempel der Bezirkshauptmannschaft Oberpullendorf vom 22. April 1938:

Dokument zur "Judenabsonderung in das Ausland" für Familie Goldberger, 21, April 1938
Dokument zur “Judenabsonderung in das Ausland” für Familie Goldberger, 21, April 1938

 

Vom 31. März 1938 existiert ein Schreiben, das belegt, dass Rabbiner Goldberger darum angesucht hat, erst 14 Tage bis 3 Wochen später ausreisen zu müssen, wenn seine Frau wieder transportfähig ist, da die Ehefrau erst am 25. März erst entbunden hatte.
Ein Amtsvermerk (auf dem selben Schreiben) vom 22. April 1938 beschreibt die Misshandlung der Familie Goldberger in 2 Sätzen und völlig emotionslos, nennt aber ‒ im Gegensatz zum russischen Dokument oben ‒ auch die Namen der Misshandler:

Amtsvermerk vom 22. April 1938,
Amtsvermerk vom 22. April 1938, Schreiben vom 27. April 1938, Gendarmeriepostenkommando Kobersdorf

 

Simon Goldberger wurde am 03. Juli 1908 als Sohn des Lipot (Leopold) Goldberger und der Rosa Berger in Mád (Ungarn) geboren. Sein Vater war Talmudist und bei der Geburt des Sohnes 27 Jahre, die Mutter 26 Jahre alt.

Geburtseintrag Mád (Ungarn), Simon Goldberger, 03. Juli 1908
Geburtseintrag Mád (Ungarn), Simon Goldberger, 03. Juli 1908

 

Geburtsanzeige Simon Goldberger, 03. Juli 1908, Mad in Ungarn
Geburtsanzeige Simon Goldberger, 03. Juli 1908, Mad in Ungarn

 

Seine Frau Paula (Perl) wurde am 04. September 1903 in Kobersdorf geboren als Tochter des Rabbiner-Vorgängers von Simon Goldberger, Mose Lipschütz:

Geburtseintrag Paula Lipschütz, 04. September 1903 in Kobersdorf
Geburtseintrag Paula Lipschütz, 04. September 1903 in Kobersdorf

 

Söhne:

Lazar Goldberger, geb. 29. Mai 1935 in Kobersdorf

Eintrag Geburtsbuch Kobersdorf, Lazar Goldberger, 29. Mai 1935
Eintrag Geburtsbuch Kobersdorf, Lazar Goldberger, 29. Mai 1935
 

Hermann Goldberger, geb. 08. Dezember 1936 in Kobersdorf

Eintrag Geburtsbuch Kobersdorf, Hermann Goldberger, 08. Dezember 1936
Eintrag Geburtsbuch Kobersdorf, Hermann Goldberger, 08. Dezember 1936
 

Isidor Goldberger, geb. 25. März 1938 in Kobersdorf

Eintrag Geburtsbuch Kobersdorf, Isidor Goldberger, 25. März 1938
Eintrag Geburtsbuch Kobersdorf, Isidor Goldberger, 25. März 1938
 

Rabbiner Simon Goldberger wurde in Auschwitz ermordet. Seine Frau Paula (Perl) wurde ebenfalls in Auschwitz ermordet. Auch alle drei Kinder, Lazar Goldberger, Hermann Goldberger und Isidor Goldberger, wurden in der Schoa ermordet.

 

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