Zum Pesachfest 5771 – II
Nach unserem ersten Beitrag zu Pesach mit einem Blick in die Pesach-Haggada des Rothschild-Miscellanys, in dem wir Abraham und den 3 Engeln in Mamre begegneten, widmen wir uns heute einer der wohl faszinierendsten, weil vielleicht auffälligsten Pesach-Haggadot, der sogenannten Vogelkopf-Haggada, Süddeutschland, spätes 13. Jahrhundert.
Die Israeliten sammeln Wachteln und Manna, wie es im 2. Buch Mose (Exodus), 16,13-15 heißt
Am Abend kamen die Wachteln und bedeckten das Lager. Am Morgen lag eine Schicht von Tau rings um das Lager. Als sich die Tauschicht gehoben hatte, lag auf dem Wüstenboden etwas Feines, Knuspriges, fein wie Reif, auf der Erde. Als das die Israeliten sahen, sagten sie zueinander: Was ist das? Denn sie wussten nicht, was es war. Da sagte Mose zu ihnen: Das ist das Brot, das der Herr euch zu essen gibt.
Um die wahrscheinlich seltsam anmutende Darstellung der Menschen mit Vogelköpfen zu verstehen, müssen wir ein paar Jahrhunderte in der Geschichte zurückblättern. Denn im 2. Buch Mose (Exodus), 20,4 finden wir das sogenannte Bilderverbot biblisch begründet:
Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.
Und doch: Die weithin gängige Meinung von einer allgemeinen jüdischen Bilderfeindlichkeit musste spätestens in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts revidiert werden, vor allem aufgrund der Aufdeckung der Synagoge von Dura Europos sowie bedeutender Funde mehrerer spätantiker figürlicher Fußbodenmosaiken. Es gab viele Jahrhunderte währende Zeitspannen, in denen das jüdische Bilderverbot, insbesondere unter dem Einfluss der im Umfeld wohnenden bilderfreudigen andersgläubigen Völker, aufgegeben bzw. nur auf die Herstellung von vollplastischen Figurendarstellungen beschränkt wurde.
Vorbereiten der ungesäuerten Brote für den Auszug aus Ägypten. Die ausziehenden Israeliten tragen auf ihrem Rücken den ungesäuerten Teig laut 2. Buch Mose (Exodus), 12,34:
Das Volk nahm den Brotteig ungesäuert mit; sie wickelten ihre Backschüsseln in Kleider ein und luden sie sich auf die Schultern.
Vor allem das Christentum in West- und Mitteleuropa des 13. Jahrhunderts bot jüdischen Handwerkern die Möglichkeit, die Schreib- und Malkunst zu erlernen. Denn neben den klösterlichen Skriptorien, in denen die heiligen Texte von Mönchen geschrieben und illuminiert worden waren, kamen nun zunehmend bürgerliche Malerwerkstätten auf. Und von diesen übernahmen die jüdischen Künstler bald inhaltliche Anregungen, sogar ganze Bildvorlagen und oft auch den jeweiligen Malstil.
Selbstverständlich erhoben jüdische Gelehrte wieder ihre Stimmen gegen die neuerwachte jüdische Figurenmalerei, nur waren viele von ihnen konzessionsbereiter als in der Spätantike (da durch die Übernahme von christlichen bildlichen Vorlagen keine Gefahr eines Abfalls zum Götzenkult befürchtet werden musste!). In manchen Gegenden wurde aber auch von jüdischen Malern versucht, den Einwänden ihrer Gelehrten Rechnung zu tragen, indem sie die Darstellung des “ganzen” Menschen vermieden: Man verhängte z.B. das Gesicht mit Haaren, deutete die Gesichtszüge nur an oder gab eben den Menschen Tier- oder Vogelgesichter. In der Vogelkopfhaggada sind die menschlichen Köpfe durch Vogelköpfe mit Adlerschnäbeln ersetzt. Die männlichen Israeliten sind durch den mittelalterlichen jüdischen Spitzhut gekennzeichnet.
Die illustrierte Pesach-Haggada war sicher gegen Ende des 13. Jahrhunderts aus dem Gebetbuch herausgelöst worden und als eigenes Büchlein für den ersten Abend von Pesach, den Sederabend, gestaltet worden, wofür unsere Vogelkopfhaggada der schönste Beweis ist. Darin finden wir überdies noch am Beginn des liturgischen Texts ein Bild des Hausherrn und seiner Frau am Sedertisch, das zeigt, wie der Hausherr aus der Pesach-Haggada vorliest. Faszinierend: Diese ist übrigens eindeutig an derselben Stelle aufgeschlagen wie die Haggada selbst (siehe vergrößertes Bild!).
Literatur
- Lohrmann K. (Hg.), 1000 Jahre österreichisches Judentum, Ausstellungskatalog, Eisenstadt 1982
- Schubert U., Bilder zur Bibel im Judentum, Graz o.J.
- Schubert U., Jüdische Buchkunst I, Graz 1983
- Schubert U., Jüdische Buchkunst II, Graz 1992
Wir wünschen ein frohes und koscheres Pesachfest 5771!
חג פסח כשר ושמח
Außerdem wünschen wir unseren christlichen Leserinnen und Lesern ein frohes Osterfest!
Bitte beachten Sie den wunderbaren und ausführlichen Kommentar mit vielen Bildbeispielen von Meir Deutsch!
Now on the lighter side of the Hagada.
“Let them eat cake” is the traditional translation of the French phrase “Qu’ils mangent de la brioche”, supposedly spoken by Marie Antoinette upon learning that the peasants had no bread. Brioche is a luxury bread enriched with eggs and butter.
What are Matzot (mazzes in German)? If we look at exodus 12, 39 we find written: “And they baked unleavened CAKES of the dough…”
As Matza is called also “poor man’s bread”, did Queen Marie Antoinette get her phrase from the Hagada?
Dear Johannes,
You surprise us again and again with your answers to our questions. Keep on your good work.
You just pointed out that some artists, painting pictures of the past are influenced by their own history and include it in their work. You mention Meir ben Baruch aus Rothenburg durch Rudolf von Habsburg and the Reich’s eagles in the BIRD HEADS HAGADA.
One of the most beautiful Illuminated modern Hagada is Arthur Szyk’s (1894-1951).
Besides putting the History of the Jews in Egypt and the SEDER table he added a touch of the political History of his time.
You can see some of the drawings at:
http://www.berkeleyside.com/2011/04/12/a-most-unusual-haggadah-on-display-in-berkeley/
Just have a look at his illustration of the “four sons”, the wicked one.
By the way, the Hagada’s 1938 edition was dedicated to the suffering Jews of Germany and Austria. See:
http://www.ushmm.org/museum/exhibit/online/szyk/jewish/93820.htm
About Arthur Szyk’s work see also:
http://www.ushmm.org/museum/exhibit/online/szyk/artindex/
Happy Passover חג שמח
Lieber Meir,
vielen herzlichen Dank für die tollen Hinweise! Ich kannte die Hagga noch nicht, ist ja hochinteressant :)
Ich wollte zu Ihrem obigen Kommentar in meiner Antwort noch etwas ergänzen (was ich oben vergessen habe bzw. das im Beitrag nur angedeutet ist):
Im 13. Jahrhundert vermied man im aschkenasisch-süddeutschen Raum vielfach, aber eben NICHT konsequent und durchgehend (!), eine en-face-Darstellung des Menschen (das hat natürlich auch mit dem hebräischen Text des Bilderverbots zu tun: … וכל תמונה …,) Und so ersetzte man, wie oben schon geschrieben, den menschlichen kopf entweder durch Tierköpfe, z.B. Vogelköpfe, oder radierte die bereits gemalenen Gesichter wieder aus.
Mit dem Ende des 13. Jahrhunderts begann sich dann langsam die bedenkenlose Darstellung des menschlichen Gesichts durchzusetzen (z.B. Regensburger Pentateuch usw.) oder aber es finden sich beide Formen nebeneinander (z.B. London: in dieser Haggada werden bei der Darstellung der Verleihung der Tora auf dem Sinai die männlichen Israeliten mit menschlichem Gesicht und Judenhut, die Frauen aber mit Tierköpfen dargestellt!). Wir sehen also, dass es eine Zeit brauchte, bis man die Scheu verlor, den “ganzen Menschen darzustellen, an dem sich alle Körperteile befinden” (J. Rosenthal, Sepher Joseph Hamekane, Jerusalem 1970, 48, Nr. 29a). Und diese Auffassung rechtfertigte natürlich auch die Darstellung des Hinterkopfes anstelle des Gesichts.
Ich wünsche auch Ihnen חג שמח und bleiben Sie bitte unser treuer Kommentator!
herzlichst, Johannes
Johannes,
Thank you for posting the Bird’s Head Hagada.
You assumed that the changing of the heads from human to bird had to do with Exodus 20, 4.
If you look at the “Bird’s Head Hagada” you will see that only the heads of the Hebrews (Jews) was changed to a Bird’s head. The heads of the Gentile Egyptians are human heads.
Johannes, Can you post one of the pictures from that Hagada that include Egyptians, for instance “The hebrew slaves working in the fields and orchards and at the right a seated Pharoh” or “The Egyptian beating a Hebrew slave”.
חג שמח
Lieber Meir,
hier das gewünschte Bild in der Vogelkopf-Haggda, folio 24 verso:
Ich wollte das Bild tatsächlich erst auch im Beitrag bringen, habe mich dann aber dagegen entschieden, damit der Beitrag selbst nicht zu lang wird. Daher vielen Dank für Ihren Kommentar!
Einige Anmerkungen dazu:
Es ist korrekt – wie Sie schreiben -, dass nur die Juden in der Vogelkopf-Haggada Vogelköpfe haben. Auf dem Bild auf folio 24 verso sehen wir, die die Ägypter die Israeliten bis zum Schilfmeer verfolgen, die Ägypter haben teilweise angedeutete Gesichter. Das Gesicht des Pharao wurde ausradiert!
Bemerkenswert ist überdies, dass wir auf dem Bild gleich 2x eine Darstellung des Reichsadlers finden: Auf der Standarte, die der Reiter links von Pharao, also im Bild ganz links, trägt und auf dem Trosswagen rechts im Bild. Das dürfte eine Anspielung auf die Verhaftung des berühmten talmudischen Gelehrten Meir ben Baruch aus Rothenburg durch Rudolf von Habsburg sein. Während des Interregnums war das Judenregal praktisch in der Hand der Landesfürsten. Rudolf war nun bestrebt, dieses Regal wieder fest in seine Hand zu bekommen. Aufgrund einer Erklärung des Hohenstaufers Friedrich II. von 1236 waren die Juden kaiserliche Kammerknechte. Die durch die Juden zu erwartenden Steuern sollten allein dem kaiserlichen fiscus zugutekommen. Der Streit um das Judenregal veranlasste 1286 Meir ben Baruch, Rothenburg zu verlassen. Zahlreiche deutsche Juden wollten ihm folgen. Das bedeutete eine starke finanzielle Einbuße für den Kaiser. Um eine jüdische Massenauswanderung aus Deutschland zu verhindern, wurde Meir ben Baruch in der Lombardei von Meinhard von Görz aufgegriffen und nach Deutschland zurückgebracht. Dort musste er seinen Lebensabend in der Burg Ensisheim verbringen, wo er zwar kein Gefangener im mittelalterlichen Sinn des Wortes war, jedoch sozusagen unter Hausarrest stand. Der jüdische Maler der Vogelkopf-Haggada (ein gewisser Menachem laut folio 11 recto) hat nun die Festnahme des Meir von Rothenburg durch Rudolf von Habsburg mit der Verfolgung der Israeliten zum Schilfmeer durch den Pharao verglichen.
(siehe Kurt Schubert, Pesach-Haggada, Objekt 33, in: 1000 Jahre österreichisches Judentum, hg. von Klaus Lohrmann, Ausstellungskatalog, Eisenstadt 1982, S. 306)
Johannes. Thank you for posting the additional paintings of BIRDS HEAD HAGADA which is in the collection of the Israel Museum in Jerusalem.
Now for the English readers just before the eve of PESAH:
There are many translations of the Hagada into English. I want to point out one that was published by Koren Publishers Jerusalem. The English translation is by Harold Fisch.
There are two verses in the Hagada that are arranged in Alphabetical order according the Hebrew Alef-Bet. One is “אז רב נסים הפלאת בלילה” and the second one “אומץ גבורותיך הפלאת בפסח”. With his command of the English language, Harold Fisch managed to translate these parts into English, keeping the Alphabetical order headings according the English ABC.
A host … …אז רב
Beginning … …בראש
Captives … …גר צדק
and so on.
Here is the Alphabetical Acrostic of the English translation of one of them. The Hebrew text you can find in any Hagada under the heading “ובכן ויהי בחצי הלילה” (please click on the picture to enlarge it!)
That is just another example of “decorating” the Hagada.
Happy Passover
חג שמח
wieso plötzlich das mit der freischaltung?
weil Name (+ hebräisch) und IP-Adresse anders waren als bei deinen früheren Kommentaren
“da durch die Übernahme von christlichen bildlichen Vorlagen keine Gefahr eines Abfalls zum Götzenkult befürchtet werden musste!” – leuchtet mir historisch (ungeachtet persönlicher vorstellungen) nicht ein.
The Art of the Passover Hagada
We are approaching the celebration of Passover, or CHAG HAMATZOT that is commonly called PESAH (although PESAH is only the eve of Passover).
On the first evening of Passover we sit at the SEDER = Order (usually a gathering of family and friends) and read the HAGADA = A history book that tells us mostly about the enslavement and redemption from Egypt. The HAGADA is one of the most widely printed Hebrew Books and, if I am not mistaken, the first religious book that was illuminated and included pictures.
We can see from some of the HAGADOT (the ones of Central Europe) that although they were printed in different times and places, the illuminations keep many details in common. The pictures are from the following HAGADOT: 1) Zultzbach 1711 2) Offenbach 1722 3) Moshe Kohen [Pressburg] 1816 4) Pest 1868
If we look at the pictures of the four sons: the wise, the wicked, the simple and the one who does not know to ask, we see them portrayed the same way. The wise is outstretching his right arm. The wicked is always wearing a spear, carrying a shield and on the run. The simple is leaning on a stick and looks bored. The fourth is clapping his hands and looking happy.
Die 4 Söhne, Pesach-Haggada, Offenbach 1722
Die 4 Söhne, Pesach-Haggada, Pest 1868
Die 4 Söhne, Pesach-Haggada, Moshe Kohn, Pressburg 1816
The pictures of the three Angels visiting Abraham in his tent in the desert show always a house [no tent], a river and a boat [in the desert?] and a city in the horizon.
Abraham und die 3 Engel, Pesach-Haggada, Offenbach 1722 (siehe auch den 1. Beitrag!)
The illustrations of the meal show the men sitting in a room with three top rounded windows and a chandelier. There is someone at a water vessel collecting water. The Pressburg HAGADA has square windows, but to go along the tradition the artist rounded them up with arches.
Sedermahl, Pesach-Haggada, Offenbach 1722
Sedermahl, Pesach-Haggada, Pest 1868
The fourth illustration I chose is the Israelite slaves building cities in Egypt. If we look at the tools we can see the same tool used for mixing the cement. There is always the Egyptian beating up the slave with a stick.
Die Israelitischen Sklaven beim Städtebau in Ägypten, Pesach-Haggada, Offenbach 1722
Die Israelitischen Sklaven beim Städtebau in Ägypten, Pesach-Haggada, Zultzbach 1711
Die Israelitischen Sklaven beim Städtebau in Ägypten, Pesach-Haggada, Pest 1868
Wishing you all a Happy Passover!
חג פסח כשר ושמח