Wie hebräische Grabinschriften der Anonymität entrissen werden
Grundsätzliches – Ausrüstung – Hilfsmittel
Einerseits gehört das Aufarbeiten von jüdischen Friedhöfen zu den Schwerpunktarbeiten des Museums, andererseits erreichen uns immer wieder (individuelle) Anfragen mit der Bitte um Übersetzung von hebräischen Grabinschriften.
Eine Besonderheit aller jüdischen Friedhöfe auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes (mit einer einzigen Ausnahme, dem jungen jüdischen Friedhof in Oberwart) ist, dass wir ausschließlich Gräber mit hebräischen Grabinschriften finden. Nur sehr selten werden Eigennamen der Verstorbenen zusätzlich mit lateinischen Buchstaben bzw. Todesdaten in nicht-hebräischer Schreibweise (also z.B. ‘1859’) angegeben.
Nicht nur, aber besonders hier im Burgenland sind Grabsteine oft wirklich die letzten Zeugen jahrhundertelangen jüdischen Lebens in der Region, die (vielfach sehr textintensiven) Inschriften eine Primärquelle erster Güte zur Erforschung der (inner)jüdischen Geschichte.
Deshalb also hier der erste Teil einer kleinen Serie zum Thema jüdische Friedhöfe, hebräische Grabinschriften und ihre Aufarbeitung.
Das Folgende ist nicht der Bericht eines Restaurators, sondern ein grober Erfahrungsbericht über die praktische Arbeit auf jüdischen Friedhöfen und bezieht sich auf das Lesbarmachen hebräischer Inschriften. Vielleicht kann er Ihnen im Alltag eine kleine Hilfestellung sein beim Lesen von Inschriften.
Es muss wohl nicht vorausgeschickt werden, dass für die Aufarbeitung von jüdischen Friedhöfen (Texttranskription bzw. Übersetzung) kaum je eine fachgerechte Restaurierung der Steine möglich ist, das Lesbarmachen der Inschriften daher meist mit sehr einfachen Mitteln bewerkstelligt werden muss.
Zunächst ist zu unterscheiden zwischen dem Lesen der Inschrift vor Ort, also am Friedhof, und dem Lesen auf einem Foto. Grundsätzlich rate ich dringend zu beidem, da außer bei sehr einfachen und sehr klaren hebräischen Inschriften Fotos immer hilfreich oder gar gute Korrektive sein können (siehe unten).
In jedem Fall sollten Sie für die Arbeit am Friedhof einiges an Ausrüstung mit dabei haben (auch wenn Ihnen manches lächerlich vorkommt, ohne Liste vergesse zumindest ich immer etwas):
Kopfbedeckung (für Männer), Kleidungsschutz oder Kleidung, die nachher eventuell entsorgt werden kann (weil von Dornen und spitzen Steinen zerrissen), viel Kreide (für eine Inschrift rechnen Sie am besten mit mindestens zwei bis drei Kreiden, siehe unten), kleine Umhängetasche für die Kreide (um die Kleidung zu schonen, falls Sie diese nicht entsorgen wollen), Wasser (Kübel/Eimer und Wasser am besten in Flaschen oder Kanistern mitnehmen), Bartwisch/Handfeger mit sehr weichem Haar (am besten solche, mit denen man etwa Schnee vom Auto kehren kann), mehrere sehr weiche Tücher (keine Tücher, die fusseln), stabile Schreibunterlage, gute Stifte, viel Papier, Klammern, mit denen das Papier an der Unterlage befestigbar ist (kalte Finger, Wind), in der kälteren Jahreszeit Handschuhe (z.B. dünne, aber wirksame Laufhandschuhe, die das Schreiben ermöglichen), Fotoapparat.
Lesen vor Ort und/versus Lesen auf dem Foto
- Befunde sollten nie ausschließlich aufgrund eines Fotos gemacht werden. Wenn die Möglichkeit besteht, sollte unbedingt die Inschrift auch vor Ort (also am Friedhof) gelesen werden, um einen sichereren Befund zu erhalten.
- Befunde vor Ort sollten aber – außer bei sehr klaren (und einfachen) Inschriften – immer auch noch anhand eines oder mehrerer Fotos der Inschrift überprüft werden. Meist ermöglicht zwar das Lesen der Inschrift vor Ort den aufschlussreicheren Befund, es kommt aber immer wieder vor, dass Fotos bei Problemen, die vor Ort nicht gelöst werden können, zumindest eine neue Sicht bzw. neue Ideen ermöglichen und im besten Fall beim nochmaligen Abgleich vor Ort zu einem sichereren Ergebnis führen.
- Selbstverständlich führen bessere Fotos zu besseren Ergebnissen. Trotzdem sollte, was das Lesbarmachen betrifft, die Bedeutung der Professionalität des Fotos nicht überschätzt werden. Wichtiger ist es – wie für das Lesen vor Ort –, auch beim Fotografieren Wetterlage und Sonnenstand zu berücksichtigen. In der Praxis bedeutet dies etwa, dass auf Blitzlicht meist verzichtet werden sollte (auch ein Seitenblitz bringt meist nicht bessere Ergebnisse).
- Salopp formuliert kann man sagen, dass manche Inschriften morgens, manche mittags, manche abends, manche nach dem Regen, manche bei direkter Sonnenbestrahlung besser lesbar sind, jeweils abhängig von Schrift, Gravur, Tiefe der Gravur, Steinart, Beschaffenheit und Zustand des Steines usw. In der Praxis bedeutet dies, dass es meist notwendig ist, schwer zu lesende Inschriften zu verschiedenen Tageszeiten (oft sogar zu verschiedenen Jahreszeiten) und vor allem bei verschiedenen Wetterbedingungen zu lesen. Dasselbe gilt auch für die Anfertigung von Fotos.
- In den seltensten Fällen konnte ich mit der Nachbearbeitung von Fotos (auch mit guten Kenntnissen und professioneller Software) deutlich aussagekräftigere Ergebnisse erzielen. Den Versuch ist es zwar immer wert, es sollte nur nicht zu viel erwartet werden.
- Kommt Kreide oder Wasser zum Einsatz, müssen auch Fotos von den Inschriften mit aufgetragener Kreide bzw. unmittelbar nach dem Waschen mit Wasser gemacht werden.
Wasser
Bevor eine schwer lesbare Inschrift mit Kreide bearbeitet wird, sollte versucht werden, die Inschrift mit Wasser zu reinigen. Der Reinigungsvorgang muss äußerst vorsichtig durchgeführt werden, das Wasser sollte mit dem Besen mit weichem Haar gleichmäßig verteilt werden. Oft werden Inschriften schon alleine durch die sanfte Reinigung besser lesbar und weitere Maßnahmen (Kreide) sind sogar unnötig. Mit Wasser kann man übrigens auch manchmal sehr erfolgreich arbeiten, wenn es sich um Inschriften handelt, die einmal nachgezogen wurden, die nachgezogene Spur aber im Laufe der Jahre zerflossen ist.
Kreide
Das “Allerweltsmittel” zum Lesbarmachen vieler Inschriften ist weiße Kreide. Hier ziehe ich eckige Kreiden den runden und die gewöhnliche Schul- der Straßen-/Kindermalkreide eindeutig vor. Mit der Kreide muss ausgesprochen vorsichtig umgegangen werden: Sie darf fast immer nur leicht aufgesetzt werden, v.a. um den Stein nicht zu beschädigen, und die Kreide muss mit der Breitseite immer exakt vertikal zum hebräischen Buchstaben geführt werden (also z.B. bei einer Bogeninschrift am Beginn von rechts nach links usw.), da sonst die Buchstaben noch weniger lesbar sind. Selbstverständlich sind nicht alle Steinarten mit Kreide gleich gut oder sogar nicht bearbeitbar. Während Kreide etwa auf Granit, Syenit, Diorit oder Gabbro meist recht gut anwendbar ist, ist die Anwendung bei vielen Marmor-, aber auch Kunststeinen problematisch, bei Sandstein sollte auf Kreide meist überhaupt verzichtet werden. Ein stärkeres Auftragen von Kreide ist nur bei sehr glatten Steinarten in sehr gutem Zustand möglich und hilfreich.
Führt das Auftragen von Kreide zwar zu besserem, aber noch nicht befriedigendem Ergebnis, kann versucht werden, die Kreide mit einem weichen Tuch sanft zu verwischen. Hilft auch das nicht, muss die Kreide (mit o.g. Besen) vorsichtig abgewaschen und eventuell neuerlich (sanfter oder stärker, weniger intensiv etc.) aufgetragen werden.
Hier ein konkretes Beispiel eines Grabsteins am jüdischen Friedhof Wiener Neustadt, wie eine auf den ersten Blick unlesbare Inschrift lesbar gemacht werden konnte:
Die Ausführungen erheben selbstverständlich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, es sind lediglich einige Erfahrungen, die ich im Laufe der Jahre gemacht habe. Für ganze Friedhofsprojekte ist natürlich noch wesentlich mehr zu berücksichtigen, hier sollten bloß einige Hilfestellungen für das Lesen eines oder einiger weniger Steine gegeben werden.
In der nächsten Folge dieser Serie: Wie Sie auch ohne großartige Hebräischkenntnisse Namen und Todesdatum in hebräischen Inschriften finden und übersetzen können – aus gegebenem Anlass – über die Einigung, 20 Millionen Euro für die Erhaltung der jüdischen Friedhöfe bereitzustellen.