Ein tragischer Fall

Ein tragischer Fall

Am 3. Dezember 1928, um 5.30 Uhr am Morgen, verstarb Frau Josefine Sara Weiss mit 28 Jahren in Eisenstadt und ist auf dem jüngeren jüdischen Friedhof von Eisenstadt begraben. Sie war mit dem Schuhhändler Hugo Jehuda Weiss verheiratet und hinterließ einen Sohn, Hartwig, der nur wenige Monate zuvor, am 23. März 1928, geboren wurde. Als Todesursache wird im Sterbebuch “Fehlgeburt” angegeben.
Tragisch und vielleicht nicht ganz richtig. Die wahre Geschichte rund um die Todesursache von Frau Weiss ist wahrscheinlich noch viel tragischer. Vielleicht erklärt diese Geschichte auch die Auffälligkeit, dass auf einem so großen und schönen Grabstein wie dem der Josefine Weiß nur wenige Zeilen Standardtext ohne expliziten Lobteil zu finden sind…

 

Proteste gegen einen Freispruch
Wiener Neustadt, 24. August (1929)

Vor einem Schöffensenat unter dem Vorsitz des Landesgerichtsrates Dr. Rießlein hatten sich der Arzt Dr. Paiker und seine ehemalige Assistentin Marie March wegen des Verbrechens nach §144 in geheimer Verhandlung zu verantworten. Als aus dem öffentlich verkündeten Urteil der Freispruch der beiden Angeklagten hervorging, bemächtigte sich einer Schar von Zuhörern, Kennern des tragischen Falles, der der Anklage zugrunde lag, große Unruhe, die in lauten Ausrufen und Protesten ihren Ausdruck fand.

Aus der Urteilsbegründung ging folgender Tatbestand hervor: Josefine Weiß war seit dem Jahre 1927 mit dem Schuhhändler Hugo Weiß in Eisenstadt verheiratet. Beide waren orthodoxe Juden. Im März 1928 gebar die Frau ein Kind, im November des gleichen Jahres fühlte sie sich wieder Mutter. Am 26. November reiste die Frau nach Wiener Neustadt, um, wie sie ihrem Gatten sagte, ihre Schwester zu besuchen. Als die gesund abgereiste Frau nach vier Tagen über Betreiben des Gatten heimkam, machte sie den Eindruck einer Schwerkranken und legte sich tatsächlich sofort zu Bett. Auf Drängen des Gatten berichtete sie endlich, dass sie in Wiener Neustadt bei Frau March gewesen sei, durch deren Vermittlung der angeklagte Arzt an ihr einen Eingriff vornahm. Die Kranke bat den Mann um stillschweigen, als sich aber ihr Zustand dauernd verschlechterte, musste endlich doch Stadtphysikus Dr. Pap berufen werden, der eine schwere Bauchfelleiterung feststellt, an der Frau Weiß am 3. Dezember unter qualvollem Leiden starb.

Die Verstorbene hatte nach ihrer Heimkehr dem Gatten und einer Nachbarin die Vorgänge während des Eingriffes, den Dr. Paiker in Gegenwart der Assistentin vorgenommen hatte, geschildert. Die Tote hatte ihren Mann und die Frau um strengstes Stillschweigen auch deshalb gebeten, da im Sinn ihres orthodoxen Glaubens die Abtreibung auf das strengste verboten ist.

Zur Verhandlung in Wiener Neustadt waren Hugo Weiß und eine große Anzahl orthodoxer Juden erschienen. Als der Vorsitzende den Freispruch der Angeklagten verkündete und bekanntgab, dass Hugo Weiß mit seinen Schadenersatzansprüchen von 30.000 Schilling abgewiesen worden sei, nahmen die Zuhörer gegen den Gerichtshof und den Verteidiger der Angeklagten Dr. Reichardt, so heftig und lärmend Stellung, dass die Justizwache zur Räumung des Saales und des Korridors schreiten musste.

Der Freispruch wurde damit begründet, dass die Sachverständigengutachten den verpönten Eingriff nicht einwandfrei erwiesen haben. Die Aussagen des Gatten und der Schwester der Verstorbenen und des Primarius von Eisenstadt, Dr. Pap, reichten nach dem Gutachten des Senats für einen Schuldspruch nicht aus.

Arbeiterzeitung, 25. August 1929, Seite 13

 

Der Ehemann, Hugo Jehuda Weiss, heiratete am 10. Juni 1930 ein zweites Mal: Rosa Farkas, geb. am 02. Mai 1900 in Káld (Ungarn).

Hugo Jehuda Weiss konnte 1938 emigrieren. Er starb am 13. April 1984 mit 82 Jahren in Haifa und ist dort am jüdischen Friedhof begraben. Angegeben sind auch seine Eltern: Ascher und Chana (= Ernst Weiss und Johanna Ungar).

 

Vielen Dank an Herrn Karl Pilat (dessen Schwiegermutters Mutter die Schwester von Hugo Weiss ist) sowohl für die Bestätigung des Todesdatums von Hugo Weiss als auch für die beiden Dokumente der “Steuerunbedenklichkeit” von Herrn Weiss im Jahr 1938:

 

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