oder “mein fünfter Mauer-Artikel”.
Fast wöchentlich bin ich in Lackenbach. Naturgemäß immer am jüdischen Friedhof, sehr selten daneben, auf dem durch einen Maschendrahtzaun getrennten Romafriedhof. Zugegeben eine etwas dünne Erklärung, dass ich die beiden Tafeln in der Südmauer des Friedhofes (auf dem Gelände des Romafriedhofes) bisher nicht gesehen habe.
Vor einigen Wochen besuchte ich mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien sowohl den jüdischen als auch den Romafriedhof in Lackenbach. Eine der Damen machte mich auf die beiden Tafeln aufmerksam.

Stegreif konnte ich nur wenige Zeilen lesen, die Zeit, die Tafeln zu bearbeiten, hatten wir nicht. Daher fuhr ich wenige Tage danach noch einmal nach Lackenbach und versuchte, den gesamten Text auf den beiden Tafeln lesbar zu machen:
Der Romafriedhof neben dem jüdischen Friedhof
Seit Ende 1940 befand sich in Lackenbach das größte “Zigeuner-Anhaltelager” in Österreich. Die Toten, vor allem Opfer der im Lager ausgebrochenen Typhusepidemie 1941, wurden in einer Ecke auf dem benachbarten jüdischen Friedhof in Lackenbach begraben.
1985 kaufte der Verein “Zigeunerfriedhof Lackenbach” von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien das ganze Grundstück 558/2 SB Friedhof aus Einlagezahl 11 KG, Lackenbach mit 806m2 um den vereinbarten Kaufpreis von 100 Schilling. Der Verein war 1984 von den Überlebenden Ludwig Schneeberger und Josef Fojn gegründet worden, 2017 wurde der Verein “Friedhof der Sinti Lackenbach” neu gegründet[1].
Mit anderen Worten: Der Romafriedhof befindet sich zwar auf dem Gelände des ehemaligen jüdischen Friedhofes, ist aber seit 1985 nicht mehr Teil des jüdischen Friedhofes!
Interessanterweise erfahren wir durch die beiden nun gefundenen Tafeln an der Südmauer des Friedhofes genau zu diesem Thema weitere Details. Denn wir lesen, dass der jüdische Friedhof im Jahr 1895 erweitert wurde.
Ganz offensichtlich, weil man vorsorgen wollte, die Toten am jüdischen Friedhof begraben zu können. Immerhin lebten 1890 in Lackenbach noch 677 Jüdinnen und Juden, das sind um 100 weniger als zur Blütezeit im Jahr 1869 mit 779 Jüdinnen und Juden. Man rechnete nicht mit der recht bald und schnell einsetzenden Abwanderung, schon gar nicht mit dem gewaltsamen und brutalen Ende der jüdischen Gemeinde 1938. 1934 lebten in Lackenbach nur noch 346 Jüdinnen und Juden.
Der größte Teil des 1895 erweiterten Teils des jüdischen Friedhofes wurde nicht mehr belegt. Daher wurden erst die Opfer der Roma und Sinti dort begraben und 1985 von den Romavertretern angekauft.
Die obere Tafel ist im Wortlaut sehr ähnlich der älteren Tafel an der Nordmauer, die untere Tafel aber nennt jene Gemeindevertreter, unter deren Aufsicht die Erweiterung des Friedhofes stattfand (die wohl auch für die Finanzierung gesorgt hatten):
Die hebräische / aramäische Inschrift – Obere Tafel
| [1] Diese Mauer wurde erbaut | חומה זו נבנתה |
| [2] um den Friedhof zu erweitern. | להרחב בית עלמין |
| [3] Im Jahr 655 n(ach der) k(leinen) Z(eitrechnung). | בשנת תרנה לפ”ק |
| [4] 5655 (= 1895) | |
| [5] nach Erschaffung der Welt. | לבריאת העולם |
Die hebräische Inschrift – Untere Tafel
| [1] unter der Aufsicht der Vorsteher der Gab[bai]m des laufenden Jahres. E(s sind) d(ies): | תחת השגחת אלופי הגבאים דהאי שתא הה |
| [2] d(er ehrbare) H(err) Salman Hacker, | כה זלמן האקער |
| [3] unser Lehrer und Meister (MORENU) Itzik Kornfein | unser Lehrer und Meister (MORENU) Mordechai Grünsfeld | מהו איצק קארנפיין | מהו מרדכי גרינספעלד |
| [4] d(er ehrbare) H(err) Eisik Leitner | d(er ehrbare) H(err), H(err) Mose Neufeld | כה אייזיק לייטנער | כהר משה נייפעלד |
| [5] [d(er ehrbare) H(err)] Mose Lederer | d(er ehrbare) H(err), H(err) Leser Schneider | [כ]ה משה לעדערער | כהר ליזר שניידער |
Anmerkungen
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Obere Tafel
Zeile 1: Vgl. Nehemia 7,1 וַיְהִ֗י כַּאֲשֶׁ֤ר נִבְנְתָה֙ הַחוֹמָ֔ה “Als die Mauer erbaut war…”
Ligatur von א und ל in אלופי “Vorsteher” (status constructus Plural).
Zeile 3: דהאי שתא ist Aramäisch und bedeutet “des laufenden Jahres”, siehe zB babylonischer Talmud, Traktat Bava Kama 113b דְּהַאי שַׁתָּא oder Traktat Pesachim 77a.
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Untere Tafel
Zeile 3: Die hebräische Abkürzung מהו’ bezeichnet einen innerjüdischen Titel und wird MORENU gelesen. Den MORENU-Titel erhielten nur besonders gelehrte Männer, Bernhard Wachstein bezeichnet ihn als “synagogaler Doktortitel” (siehe Bernhard Wachstein, Die Inschriften des Alten Judenfriedhofes in Wien, 1. Teil 1540 (?)-1670, 2. Teil 1696-1783, Wien 1912, 2. Teil, S. 15).
Die auf der unteren Tafel erwähnten Männer waren hochgeschätzte Vertreter der jüdischen Gemeinde Lackenbach. So etwa der erwähnte Mordechai Grünsfeld, (bürgerlich) Michael (Miksa) Grünsfeld, geb. ca. 1841 in Bratislava, Vater: Abraham Grünsfeld (weiland), Mutter: Franziska Hirschfeld (weiland), gest. mit 59 Jahren am 24. Mai 1900 um 1.15h in der Nacht an Blasenkrebs. Er ist der Ehemann der am 26. Juli 1897 verstorbenen Juliana (Golda) Grünsfeld, geb. Schwarz. Michael (Mordechai) Grünsfeld ist am jüdischen Friedhof Lackenbach in der Rabbinerreihe, gleich neben Rabbiner David Ullmann und seiner Frau, begraben.

Informationen über die die Gabbaim siehe im Artikel “Die Mauer”.
[1] Vielen Dank an Herbert Brettl für die Hilfe bei der Recherche zum Romafriedhof, siehe vor allem sein Buch: Brettl Herbert, Sichtbar machen. Erinnerungslandschaft – Orte und Zeichen des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Burgenland, Oberwart 2024, Seite 134 sowie den Eintrag auf
DERLA | Digitale Erinnerungslandschaft, ebenfalls von Herbert Brettl. [Zurück zum Text (1)]
[2] Wachstein Bernhard, Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Eisenstadt und den Siebengemeinden, Eisenstädter Forschungen, Wien und Leipzig 1926, 206, Punkt 7. [Zurück zum Text (2)]
[3] Wachstein Bernhard, Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Eisenstadt und den Siebengemeinden, Eisenstädter Forschungen, Wien und Leipzig 1926, 188f. [Zurück zum Text (3)]
[4] Wachstein Bernhard, Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Eisenstadt und den Siebengemeinden, Eisenstädter Forschungen, Wien und Leipzig 1926, 188f. [Zurück zum Text (4)]
[5] Wachstein Bernhard, Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Eisenstadt und den Siebengemeinden, Eisenstädter Forschungen, Wien und Leipzig 1926, 200, Punkt 7 und 8. [Zurück zum Text (5)]





