Zum Projekt
“Neuer jüdischer Friedhof Nikolai” ist ein Projekt der
“Historischen Gesellschaft Mikołów (Polen).
Mein Ansprechpartner ist Herr Piotr Grodecki.
Das Copyright für alle Fotos liegt bei der genannten Gesellschaft bzw. bei Herrn Grodecki.
Meine Aufgabe bei dem sehr schönen Projekt der
“Historischen Gesellschaft Mikołów beschränkt sich auf die Übersetzung der hebräischen Inschriften. Ich freue mich sehr mitarbeiten zu dürfen.
Ort und Ortsname
Nikolai, polnisch Mikołów, liegt in Oberschlesien, knapp 22 km südwestlich von Kattowitz (Polen). Der Name rührt wahrsscheinlich nicht vom heiligen Nikolaus, sondern von einem Burgherrn her, der den Namen Mikuła oder Mikoła getragen hat.
Auf Polnisch finden wir als Ortsnamen weiters Mikołaj (normale Form, “Nikolaus”, Singular), Mikołajek (Verkleinerungsform Singular “Nikoläuschen”) und Mikołajki (Verkleinerungsform Plural “mehrere Nikoläuschen”). Auf Deutsch “Nikolai” und “Nikolaiken”, zum Beispiel
hier. Ob “Nikolaiken” auch ein Plural der Verkleinerungsform ist, muss offen bleiben.
Geschichte der Juden in Nikolai
Obwohl die ersten Meldungen über eine jüdische Besiedlung von Nikolai aus dem Jahr 1640 stammt, kommt es zu einem stäkeren Zuzug von Juden erst nach 1779, nachdem die preußischen Behörden die Juden gezwungen hatten, von den Dörfern in die Städte zu ziehen. Mikołów bzw. Nikolai war eine dieser Städte, in der aufgrund eines Beschlusses der Breslauer Kammer vom 17. August 1780 Juden leben durften. 1787 zählte die örtliche jüdische Gemeinde 88 Mitglieder.
Mit dem Emanzipationsedikt von 1812 wurden die Juden zu vollwertigen Bürgern des Königreiches Preußen. Voraussetzung für die preußische Staatsbürgerschaft waren die Annahme deutscher Namen sowie die Fähigkeit Deutsch zu sprechen.

Quelle:
Wikipedia.
1816 wurde die Synagoge erbaut, 1854 wurde die jüdische Gemeinde Nikolai vom preußischen Staat offiziell anerkannt und 1860 wurde neben der Synagoge die Mikwe errichtet. Zu diesem Zeitpunkt lebten über 500 Juden in Nikolai, etwa 11% der Gesamtbevölkerung.
Mit Ende des 19. Jahrhunderts begann der Abzug von Juden in größere Zentren wie in das 25km entfernte Gleiwitz (polnisch Gliwice) oder das fast 200km entfernte Breslau.
Nach der 1922 erfolgten Eingliederung von Nikolai in Polen kam es zu einem fast vollständigen Exodus der deutsch-jüdischen Bevölkerung, an deren Stelle Juden aus dem ehemaligen
Kongresspolen, dem 1815 auf dem Wiener Kongress geschaffenen konstitutionellen Königreich Polen, traten. Die Volkszählung 1931 ergab, dass von 11.462 Einwohnern der Stadt 130 Juden waren. Bis 1939 erhöhte sich ihre Zahl durch den Zuzug von Juden aus dem ehemaligen Kongresspolen auf 222 Juden in Nikolai.
1942 wurden die Juden vom 24km entfernten Ghetto Sosnowitz (polnisch: Sosnowiec, Oberschlesien), wohin die meisten Juden aus Nikolai deportiert worden waren, nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo viele von ihnen ermordet wurden. Die Synagoge von Nikolai wurde von den Nazis zerstört und weitgehend niedergebrannt, 1972 dann auf Anordnung der Behörden gesprengt.
Prominente jüdische Persönlichkeiten
Einer der prominentesten Juden waren der 1828 in Nikolai geborene Architekt
Ignaz Wechselmann, seit 1884 Ritter von Wechselmann, der unter anderem von
Ludwig Förster nach Pest entsandt worden war, um dort den Bau der
Großen Synagoge (erbaut zwischen 1854 und 1859) zu leiten. Ludwig von Förster, in dessen Wiener Atelier Otto Wagner arbeitete, hatte unter anderem sowohl die Pläne für die Große Synagoge in Budapest als auch für den
Leopoldstädter Tempel (erbaut zwischen 1854 und 1858) im 2. Wiener Gemeindebezirk entworfen.
Weithin bekannt war auch der 1856 in Nikolai geborene Rechtsanwalt und Rechtspublizist
Samuel Hermann Staub, der vor allem durch seinen Kommentar zum Handelsgesetzbuch Geschichte schrieb. In diesem begründete er die Technik, die einzelnen Paragrafen in systematisierter Form darzustellen (statt wie bis dahin üblich Wort für Wort annotiert) mit der jüdischen Darstellungsweise der talmudischen Lehre, weshalb der Ansatz auch als “talmudische Methode” bezeichnet wird. Staub starb 1904 und ist am jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee begraben.
Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang aber auch und vor allem der berühmte Proselyt, also der zum Judentum übergetretene Joseph Steblicki, als Jude dann Joseph Abraham Steblicki.
Joseph Steblicki, geb. ca. 1726, betrat zu Jom Kippur 1785 die Synagoge von Nikolai (damals zu Deutschland gehörig), um mit dem Rest der jüdischen Gemeinde zu beten. Steblicki war geborener Katholik und ein angesehenes Mitglied des Stadtrates. Er hatte fünf Jahre zuvor begonnen, das Judentum zu studieren, vor allem in Krakau. Da niemand bereit war, die Beschneidung vorzunehmen, führte er sie unter Anleitung eines aus Krakau angereisten Rabbiners selbst durch.
Darüber berichtet er später bei einer Befragung, die stattfand, weil die Konversion zum Judentum gegen das Gesetz verstieß und von den Behörden untersucht werden musste:
Jedoch wollte er selbst mich nicht beschneiden, sondern er wies mir die Art und Weise, wie ichs machen sollte. Er übergab mir sodann ein kurzes Messer, womit ich mir in seiner Gegenwart die Vorhaut wegschnitt. Ich erhielt von ihm den Namen Joseph Abraham, und gleich nach der Operation nahm der Jude das Messer zurück, erhielt von mir für seine Bemühung 2 Dukaten, und ging sogleich fort, ohne sich irgend hier aufzuhalten. Mit Namen kann ich diesen Juden nicht anzeigen, denn ich habe ihn nicht gekannt …
Nach der Beschneidung wurde ich krank und schwach. Nach der Anweisung des Juden, welcher mit etwas verfaultes Holz zurückließ, bestreute ich damit die Wunde, goss warmen Wein darauf, und legte mich in’s Bette; in 14 Tagen wurde ich restituiret, und ich ging an dem großen Versöhnungsfeste am 14. September in die Synagoge der hiesigen Juden mit einem Sterbekittel…[1]
Auch seine Ehefrau wurde von den Behörden befragt:
Ich heiße Mariana, geborene Steierin, bin katholisch und über 50 Jahre alt, lebe an 30 Jahr in der Ehe mit meinem Manne, und habe mit demselben 2 Kinder erzeugt, die noch am Leben sind. Der Sohn Joh. Anton Steblitzki ist gegenwärtig Interimsrathmann allhier, 28 Jahr; die Tochter ist 25 Jahre alt, und an den Arrendator Chiträus verheiratet. Was die Hauptsache selbst betrifft: so weiß ich freilich nicht zuverlässig, dass mein Mann ein wirklicher Jude geworden ist; indessen schließ ich es aus den Umständen, weil er seit dem jüdischen Michaelisfest die Speisen, die ich zurichte und esse, außer Milch und Kaffee, nicht geniesset, und bei der verwittweten Rabinerin Salomon allhier des Tages einmal zum Essen gehet. Den Bart lässt er sich nicht rasieren, sondern schiert ihn nur mit einer Scheere ab. Den gewöhnlichen Sabbath hält er mit den Juden in der Synagoge…[2]
1807 starb Joseph Abraham Steblicki und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Nikolai begraben. Die “Schlesischen Provinzialblätter” widmeten ihm folgenden warmen Nachruf:
Nikolai, den 17. May 1807. Wenn Menschen durch auffallende Sonderbarkeiten Aufmerksamkeit erregen, so verdienen sie um so mehr nach ihrem Tode, dass ihrer in einem öffentlichen Blatte gedacht wird. Es sey daher erlaubt, des durch seinen Uebergang von der christlichen zur jüdischen Religion merkwürdig gewordenen Joseph Steblicki zu erwähnen. Dieser Mann wurde heut hier auf dem jüdischen Gottesacker in einem Alter von 73 Jahren begraben, beweint und betrauert von so Vielen, denen er durch sein rechtliches Betragen und durch sein stilles und tadelloses Leben auch in seinem neuen Verhältnisse lieb und theuer war. Er hatte hierselbst den Posten eines Cämmerers, Rathmanns und katholischen Schullehrers bis dahin verwaltet, wo er sich entschloss, den jüdischen Glauben anzunehmen. Dies geschah im Jahre 1785… Fest blieb er nur hierbey und lebte mit seiner christlich gebliebenen Frau in stiller Eintracht und friedlicher Häuslichkeit. Sie starb im vorigen Jahre, für ihn zu früh. – Er hat den Ruf eines guten Menschen mit in’s Grab genommen.[3]
Bis zum Zeitpunkt der Beschneidung erzählte Steblicki niemandem von seiner Konversion. Aufgrund seines guten Rufes, der Unterstützung seiner Familie und der Überzeugung, dass die jüdische Gemeinde mit seiner Konversion nichts zu tun hatte, wurde Steblicki strafrechtlich nicht verfolgt. Stattdessen wurde er für geistig unzurechnungsfähig erklärt und musste daher nicht einmal die obligatorische jüdische Steuer entrichten.
Der neue jüdische Friedhof

Einziger Zeuge der jahrhundertelangen Geschichte der Juden von Nikolai ist ‒ wie so oft ‒ der jüdische Friedhof.
Es gab ursprünglich zwei jüdische Friedhöfe in Nikolai, der ältere diente bis Mitte des 18. Jahrhunderts als Begräbnisstätte und ist nicht mehr erhalten.
Der neue jüdische Friedhof wurde nach einigen Quellen 1881 (
hier zum Beispiel), nach anderen schon in den 1820er Jahren (
hier zum Beispiel) angelegt. Der älteste Grabstein ist aus dem Jahr 1726 und gehört dem Chajim, dem Sohn von Jehuda Löb. Er starb am 28. Adar I 5486 = 1. März 1726. Etwa 150 Grabsteine stammen aus dem 18. Jahrhundert, es wurden wohl einige der Gräber bzw. Grabsteine vom alten jüdischen Friedhof auf den neuen jüdischen Friedhof gebracht.[4]

Auf dem neuen jüdischen Friedhof in Nikolai, der 4.385m2 groß ist, befinden sich etwa 300 Grabsteine. Die meisten davon haben hebräische Grabinschriften, der Rest der Inschriften ist Deutsch und Hebräisch. Sehr wahrscheinlich gibt es nur einen einzigen Grabstein mit einer polnischen Inschrift. Etwa 120 Grabsteine sind sehr gut, 120 teilweise lesbar. Der Rest, vor allem die Inschriften auf Sandstein-Grabsteinen, ist so gut wie nicht mehr lesbar.
Schon vor neun Jahren wurde eine grobe Inventur des Friedhofes durchgeführt, vergangenes Jahr hat die Gemeinde den Friedhofszaun erneuert und viele Grabsteine vom Efeu befreit. Freiwillige halfen, seit Jahren liegende Grabsteine wieder aufzustellen.
Das folgende Video über den neuen jüdischen Friedhof ist auf Polnisch, es gibt aber eine englische Zusammenfassung auf der YouTube-Site:
[1] Dr. Eduard Biberfeld, Joseph Abraham Steblicki. Ein Ger Zedek des 18. Jahrhunderts, in: Magazin für die Wissenschaft des Judenthums, hersg. von Dr. A. Berlinder und Dr. D. Hoffmann, zwanzister Jahrgang. 1893, Seite 192. [Zurück zum Text (1)]
[2] Dr. Eduard Biberfeld, Joseph Abraham Steblicki. Ein Ger Zedek des 18. Jahrhunderts, in: Magazin für die Wissenschaft des Judenthums, hersg. von Dr. A. Berlinder und Dr. D. Hoffmann, zwanzister Jahrgang. 1893, Seite 186f. [Zurück zum Text (2)]
[3] Dr. Eduard Biberfeld, Joseph Abraham Steblicki. Ein Ger Zedek des 18. Jahrhunderts, in: Magazin für die Wissenschaft des Judenthums, hersg. von Dr. A. Berlinder und Dr. D. Hoffmann, zwanzister Jahrgang. 1893, Seite 198. [Zurück zum Text (3)]
[4] Ich folge bei meinem Abriss der Geschichte der Juden in Nikolai in weiten Teilen dem auf Polnisch geschriebenen Artikel von Marcin Piechula “Mikołów (Nikolai) – społeczność żydowska” (Deutsch: “Jüdische Gemeinde von Nikolai”). [Zurück zum Text (4)]